Tabuthema Alkoholsucht - Experten fordern «Prävention vor Abmahnung» Von Linda Vogt, dpa

Mitarbeiter mit Alkoholproblemen sind häufiger krank, bauen mehr
Unfälle und können das Betriebsklima verschlechtern. Alkoholsucht ist
nicht nur ein persönliches Problem, sondern auch ein
wirtschaftliches.

Stuttgart (dpa/lsw) - Alkoholmissbrauch ist in Baden-Württemberg ein
wachsendes Problem und kommt die Volkswirtschaft teuer zu stehen.
Davor warnten Suchtexperten und Krankenkassenvertreter am Montag in
Stuttgart anlässlich einer bundesweiten Aktionswoche zum Thema
Alkohol. «Ohne übermäßigen Alkoholkonsum oder Alkoholprobleme wär
e in
vielen Betrieben die Arbeitsqualität besser, die Gefahr von
Arbeitsunfällen geringer und das Arbeitsklima entspannter», betonte
der Vorsitzende der Landesstelle für Suchtfragen, Oliver Kaiser.

Fünf Prozent der Beschäftigten seien suchtgefährdet und bei jedem
fünften Arbeits- und Wegeunfall sei Alkohol im Spiel. Der
volkswirtschaftliche Schaden durch Arbeitsausfälle, Frühverrentung
oder Rehabilitationen summiere sich in ganz Deutschland auf rund 30
Milliarden Euro jährlich.

Der Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer, Winfried Plötze,
warnte, Alkoholmissbrauch werde zum wachsenden Problem. Bei rund 74
000 Baden-Württembergern im Alter von 15 bis 64 Jahren wurde 2017
eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert - gegenüber 62 000 im Jahr
2010. Die Erhebung beruht auf den Daten von vier Millionen
Versicherten. Für die Firmen bedeutet das hohe Ausfallzeiten:
Beschäftigte, bei denen eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert
wurde, fehlten 2017 laut Plötze 60 Tage krankheitsbedingt - das waren
39 Fehltage mehr, als bei Kollegen ohne Alkoholabhängigkeit.

Es gebe in Betrieben Angebote wie Rückenschule und Yoga - aber das
Thema Alkohol bleibe ausgespart, beklagte Kaiser. Dabei seien die
Folgen auf die Gesundheit enorm: «Wir haben Alkohol unter den Top 10
der Stoffe, die Krebs erzeugen. Wir haben über 200 Krankheiten, für
die ursächlich der Alkoholmissbrauch ist.» Rund 1500 Menschen würden

pro Jahr in Baden-Württemberg durch die Folgen von Alkohol sterben.

Die Krankenkasse Barmer habe im vergangenen Jahr 1000 Maßnahmen zur
Gesundheitsförderung in baden-württembergischen Betrieben
durchgeführt, so Plötze - aber keine einzige davon zu Alkohol. «Weil

das von den Betrieben leider nicht nachgefragt wurde.» Er erklärte
sich das vor allem mit dem Stigma, das dem Thema anhafte: «Können Sie
sich vorstellen, was intern in der Firma auch für Gespräche beginnen:
Was, du gehst jetzt da hin? Hast du ein Problem mit Alkohol?» Das
betreffe vor allem kleine und mittelständische Unternehmen.

Beim Unternehmen Bosch wurde das Thema vor mehr als 30 Jahren zum
ersten Mal in einer Betriebsvereinbarung berücksichtigt. «Wir geben
den Mitarbeitern Hilfsangebote. Das heißt, eine Entgiftung zu machen,
eine Rehabilitation zu machen», so Michaela Noe-Bertram, Leiterin der
betrieblichen Sozialberatung im Unternehmen. Deutschlandweit gebe es
75 Ansprechpartner für Suchtprävention. «Wir haben Handlungsleitfäd
en
entwickelt für Führungskräfte. Wir schulen auch: Wie spreche ich
meinen Mitarbeiter an? Wie sprechen Kollegen Kollegen an?»

Oliver Kaiser von der Landesstelle für Suchtfragen betonte:
«Wegschauen ist genau die falsche Lösung, weil wir wissen, dass grad
im Betrieb Menschen für Alkoholprävention zu erreichen wären.» Das

Grundmotto laute: «Prävention vor Abmahnung. Da muss man rechtzeitig
hinschauen, frühzeitig intervenieren, um sozusagen den
Arbeitsplatzverlust zu verhindern.»

Die Erfahrung von Suchtberatern bestätigt diese These. «Die Menschen
kommen sehr, sehr selten freiwillig zu uns. Es braucht immer
jemanden, der den Impuls gibt. Das sind in der Regel Angehörige, oder
der Arzt oder eben der Arbeitgeber», erzählte Stefan Ulrich von der
Evangelischen Gesellschaft. Der Suchtberater aus Stuttgart
appellierte an Arbeitgeber, im Betrieb transparent mit dem Thema
umzugehen und auf Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen - aber auch
einzufordern, dass sie wahrgenommen werden. «Es ist kein Makel, es
ist eine Krankheit. Es gibt Hilfsmöglichkeiten und umso früher die
genutzt werden, umso höher ist die Erfolgsquote.»

Die Suchtberatungsstellen im Südwesten bieten spezielle
Präventionsprogramme für Betriebe. Seit 2017 gibt es auch eine
Hotline - dort könnten sich Chefs wie Mitarbeiter vertraulich beraten
lassen, so Kaiser. Aber auch die Politik sei gefordert, betonte er:
Höhere Preise, wie etwa in skandinavischen Ländern, seien ein
probates Mittel, um den Konsum zu reduzieren.