Zwanghaftes Sexualverhalten und Videospielsucht als neue Krankheiten

Die WHO hilft Ärzten mit dem ICD-Katalog, Krankheiten zu
klassifizieren. Der enthält nun auch Zwanghaftes Sexualverhalten und
Videospielsucht. Diese Einteilung ist aber nicht unumstritten.

Genf (dpa) - Zwanghaftes Sexualverhalten und Video- oder
Online-Spielsucht gehören künftig zum weltweit gültigen Katalog der
Gesundheitsstörungen. Die Diagnosen sind in der «Internationalen
Klassifikation der Krankheiten (ICD-11)» aufgeführt, die die
Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf ihrer am Montag
beginnenden Jahresversammlung in Genf (20.-28 Mai) formell
verabschieden. Der erstmals seit 30 Jahren neu gefasste Katalog
listet rund 55 000 Krankheiten, Symptome und Verletzungsursachen
auf. 

Ärzte registrieren ihre Diagnosen künftig mit den neuen Codes. Für
krankhaftes Video- oder Online-Spielen ist es «6C51», für zwanghaftes

Sexualverhalten «6C72». Damit können präzisere Statistiken erstellt

und Gesundheitstrends besser dokumentiert werden, wie Robert Jakob,
Gruppenleiter Klassifikationen (ICD) bei der WHO, im Vorfeld sagte.

«So können Antibiotika-Resistenzen erfasst werden», sagt Jakob. Ärz
te
könnten künftig bei der Diagnose «Lungenentzündung» präzisieren
, dass
bei einem Patient antibiotikaresistente Keime entdeckt wurden. «So
lässt sich feststellen, wo die Entwicklung neuer Antibiotika
besonders dringend ist», sagt Jakob. Nach Angaben des deutschen
Instituts für Medizinische Dokumentation werden nach dem für
Deutschland leicht modifizierten Katalog auch Behandlungen
abgerechnet und Statistiken zu Todesursachen geführt.

Neu können Ärzte bei einer Blutung im Gehirn auch präzisieren, dass
der Patient versehentlich ein Medikament überdosiert hatte. «Wenn
sich herausstellt, dass bestimmte Mittel oft falsch eingenommen
werden, kann man untersuchen, wie man dem vorbeugen kann», sagt
Jakob. Krankheiten sollen von den WHO-Mitgliedern ab Anfang 2022 nach
dem neuen Katalog erfasst werden.

Dass zwanghaftes Sexualverhalten und Video- oder Online-Spielsucht
neu in den Katalog aufgenommen wird, ist jedoch umstritten, weil die
Diagnosen schwierig sind. Was genau darunter zu verstehen ist, wird
in einem Zusatzhandbuch erklärt. Unter zwanghaftem Sexualverhalten
könne unter anderem übermäßiger Pornokonsum oder Telefonsex zähle
n,
sagte Jakob. Die Diagnose ist nach Definition von Fachleuten dann
angebracht, wenn Betroffene intensive, wiederkehrende Sexualimpulse
über längere Zeiträume nicht kontrollieren können und dies ihr
Familien- oder Arbeitsleben oder das Sozialverhalten beeinflusst.

Gegen die Aufnahme von Video- und Onlinespielsucht hatte vor allem
die Gaming-Industrie protestiert. Sie fürchtet, dass Menschen, die
viel spielen, plötzlich als therapiebedürftig eingestuft werden. Die
Problematik beginnt für die WHO, wenn ein Mensch über mehr als zwölf

Monate alle anderen Aspekte des Lebens dem Spielen unterordnet, oder
wenn er seine Freunde verliert oder seine Körperhygiene
vernachlässigt. Fachlich sei die Diagnose klar definiert, sagt Jakob.
«Es gibt keinen Grund, solches pathologisches Spielen aus dem Katalog
zu nehmen. Andererseits darf auch niemand, der einfach viel auf dem
Computer oder Handy spielt, als krank bezeichnet werden.»