Dutzende Pillen: «Viele wissen nicht, wofür sie was nehmen» Von Sandra Trauner, dpa

Gerade ältere Menschen leiden oft unter mehreren Krankheiten
gleichzeitig. Verschreiben verschiedene Fachärzte unabhängig
voneinander Medikamente, kann das gefährlich werden.

Frankfurt/Main (dpa) - Neun, zehn Pillen am Tag sind der
Durchschnitt, aber manchmal nehmen ältere Menschen mit mehreren
Krankheiten auch 20 oder 30 verschiedene Medikamente täglich.
Multimedikation oder Polypharmazie nennen Wissenschaftler das
Problem. In Frankfurt suchen Medizinier nach Wegen, um Patienten vor
den Gefahren eines unübersichtlichen Medikamentenmix zu schützen.

Marjan van den Akker aus Maastricht nahm im März ihre Arbeit auf. Sie
hat eine neu geschaffene Stiftungsprofessur für Multimedikation am
Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität inne. Die
Aufgabe der Niederländerin: die Versorgung mehrfacherkrankter
Patienten sicherer zu machen. Sie gibt zu, dass «die komplexe
Gesundheitssituation» dieser Patientengruppe «auch Ärzte zuweilen
überfordert».

Verschiedene Studien zeigen, wie drängend das Problem ist. Die Hälfte
aller über 65-Jährigen hat laut Gesundheitssurvey drei oder mehr
chronische Erkrankungen. Für jede Krankheit ist ein anderer Facharzt
zuständig, der verordnet, was ihm für sein Fachgebiet sinnvoll
erscheint. Aber keiner habe den Überblick, schreiben die Autoren der
«Leitlinie Multimedikation» und nennen ein Beispiel:

«Ein Kopfschmerzpatient erhält vom Hausarzt Paracetamol, vom
Neurologen ein Triptan, vom Orthopäden wegen Nackenschmerzen
Diclofenac, vom Apotheker Ibuprofen, von der Nachbarin «weil alles
nicht hilft» ASS. Und dann kommt der Patient, der vielleicht
Diabetiker ist und als Raucher Lungenprobleme hat, ins Krankenhaus
und wird dort «neu eingestellt».»

«Bei der Einnahme von mehr als fünf Wirkstoffen ist nicht mehr
vorhersehbar, was im Organismus an Wirkungen, Interaktionen und
unerwünschten Nebenwirkungen passiert», heißt es in der Leitlinie
weiter.

Eine Studie aus der Notfallambulanz der Universitätsklinik Zürich
zeigt die Dimension. Die Patienten hatten im Mittel 6,6 Erkrankungen,
jeder zweite wies «therapeutische Konflikte» zwischen seinen
Erkrankungen und seiner Medikation auf. Bei jedem Dritten waren es
«gravierende, unter Umständen lebensbedrohliche» Therapiekonflikte.
Vergleichbare Zahlen für Deutschland gibt es nicht.

Besonders gefährdet sind ältere alleinstehende Männer, sagt van den
Akker. Bei Ehepaaren laufe es meist besser. Sie berichtet von
Studien, bei denen Patienten zu Hause oder beim Arzt alles auf den
Tisch legen sollten, was sie einnehmen. «Das stimmte nur selten mit
dem überein, was in den Akten stand.» Kein Wunder, findet van den
Akker: «Die Menschen verlieren einfach den Überblick.»

Wer könnte den Überblick behalten? Der Hausarzt, glaubt van den
Akker. Er habe den engsten Kontakt zum Patienten. Was die Professorin
gern testen würde, wäre ein Modell, bei dem der Hausarzt sich zum
Beispiel einmal im Jahr eine Stunde Zeit nehmen kann, um die
komplette Medikamentenliste eines Patienten einzusehen und mit einem
Apotheker durchzusprechen.

Dass generell zu viel verschrieben wird, glaubt van den Akker nicht,
gerade Schmerzmittel würden eher zu wenig verordnet. «Je weniger,
desto besser, stimmt nicht immer», sagt sie. Aber man müsse eben auch
«genau beobachten, was passiert». Das könnten nur Ärzte und Apothek
er
gemeinsam leisten. Damit sie sich besser verstehen, will van den
Akker sie schon im Studium zusammenbringen.

Der andere Schwerpunkt ihrer Arbeit ist, die Kompetenzen des
Patienten zu stärken. «Die Patienten wissen oft gar nicht, wofür sie

was nehmen», sagt van den Akker. Je weniger sie verstehen, desto
weniger halten sie sich an die Verschreibung, desto mehr Probleme
können entstehen. Laut Aktionsbündnis Patientensicherheit sind etwa
fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen die Folge nicht korrekter
Medikamenteneinnahme.

Die Krankenkassen begrüßen die Stiftungsprofessur als «richtigen
Schritt auf dem Weg zu mehr Arzneimittelsicherheit», wie Barbara Voß,
Leiterin der Techniker Krankenkasse (TK) in Hessen, sagt. Unter den
TK-Versicherten nimmt jeder siebte gleichzeitig fünf und mehr
Medikamente, bei den über 60-Jährigen sind es sogar fast 40 Prozent.

Die Kassen setzen große Hoffnung auf elektronische Gesundheitsakten.
Die TK will sie zusätzlich um einen «digitalen Medikationsplan»
erweitern. «Eine Software prüft dann automatisch alle Verordnungen
auf Wechselwirkungen oder Unverträglichkeiten», erklärt Voß.

Technische Unterstützung «könnte hilfreich sein», sagt van den Akke
r.
Immerhin könne man damit schnell einen Überblick gewinnen. Aber die
Lösung des Problems sei das nicht. Den richtigen Medikamentenmix
auszutarieren sei zu komplex und zu individuell, um es einem
Computerprogramm zu überlassen.