Studie zeigt Ausmaß von Medikamentenversuchen an Heimkindern

Für Arzneimittelstudien gab es in den Nachkriegsjahrzehnten wenig
verbindliche Regeln. Medikamente und Impfstoffe wurden vielerorts an
Heimkindern getestet. Eine neue Studie beschreibt das Ausmaß.

Hannover (dpa/lni) - Kinder und Jugendliche aus niedersächsischen
Heimen sind in der Nachkriegszeit für Medikamentenversuche benutzt
worden. Das belegt eine Studie im Auftrag des Sozialministeriums, die
am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Demnach wurden zwischen
1945 und 1978 an den kinderpsychiatrischen Abteilungen des
Psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf und der Universität Göttingen,
in der Kinderklinik der Universität Göttingen, den Rothenburger
Anstalten und im heilpädagogischen Kinder- und Jugendheim Brunnenhof
in Rehburg-Loccum Medizintests und Impfversuche durchgeführt. Neben
Psychopharmaka wurden zum Beispiel Polioimpfstoffe an Heimkindern
getestet. In vielen Fällen handelte es sich um noch nicht zugelassene
Arzneimittel.

Die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen konnte die Studie
nicht klären. Für den knapp 170 Seiten langen Bericht werteten die
Wissenschaftlerinnen Sylvelyn Hähner-Rombach und Christine Hartig
unter anderem Veröffentlichungen zu Arzneimittel- und Impfstudien,
Dokumente aus Firmenarchiven und Akten aus staatlichen Einrichtungen
des Landes Niedersachsen aus. Die Historikerinnen arbeiteten für das
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung,
Hähner-Rombach ist nach Angaben der Einrichtung im Januar gestorben.

Die Studie legt nahe, dass die Sorgeberechtigten der betroffenen
Jungen und Mädchen nicht immer angemessen über die Versuche
aufgeklärt wurden. Mitunter fehlte die Einverständniserklärung. Als
problematisch beschreiben die Wissenschaftlerinnen zudem, dass Tests
durchgeführt wurden, obwohl für die Minderjährigen keine positiven
Auswirkungen erwartbar waren. Demnach ist möglich, dass beruhigende
Medikamente gegeben wurden, um die Betreuung der Kinder und
Jugendlichen zu erleichtern. «Bei den Studien wurde gegen ethische
und fachliche Standards verstoßen, für die Impfstudien ist zudem von
Rechtsverstößen auszugehen», heißt es in dem Bericht, der auch die

Rolle der öffentlichen Verwaltung untersucht hat.

Demnach hat das Sozialministerium im Fall der Impfungen von den
Rechts- und Normverletzungen gewusst. «In mehreren Fällen wurde es
unterlassen, das Einhalten von Rechtsvorschriften für Impfungen und
Impfversuche einzufordern», schreiben die Wissenschaftlerinnen. Mit
hoher Wahrscheinlichkeit hätten einzelne Mitarbeiter des Ministeriums
auch von den Arzneimittelstudien gewusst. Möglich sei zudem, dass
Angestellte von Jugendämtern Kenntnisse von den Tests mit nicht
zugelassenen Medikamenten hatten. Es könne sein, dass die enge
Verbindung von Heimaufsicht, Psychiatrie und praktischer
Jugendfürsorge bestimmte Arzneimittelstudien erleichtert habe.

Sozialministerin Carola Reimann (SPD) nannte die Aufarbeitung der
Vergangenheit wichtig. «Der Blick auf diese noch gar nicht so lang
vergangenen Vorfälle gibt Anlass, auch heutige Schutzsysteme für
Menschen in Obhut von öffentlicher Verwaltung und die Dynamik von
Arzneimittelforschung kritisch zu hinterfragen», sagte sie. Auch für
die Betroffenen sei es wichtig, die damaligen Vorgänge transparent
und vollständig aufzuklären.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Anja Piel, sagte, die
Ergebnisse zeigten ein erschreckendes Bild des jahrzehntelangen
Unrechts an Kindern und Jugendlichen. «Die erlittenen Qualen und das
anhaltende Leid der Betroffenen sind durch nichts wieder gut zu
machen. Umso wichtiger ist es, dass Täter, Mitwisser und beteiligte
Pharmaunternehmen identifiziert und nach Möglichkeit zur
Verantwortung gezogen werden.» Opfer müssten unbürokratisch und züg
ig
die ihnen zustehenden Entschädigungen erhalten.

Das Ministerium verwies darauf, dass das Feld der
Arzneimittelforschung in der Bundesrepublik bis Ende der 1970er Jahre
weitgehend der Selbstkontrolle der Ärzteschaft und Pharmaindustrie
überlassen war. Demnach wurde der Schutz der Probanden erst durch die
Neufassung des Arzneimittelgesetzes explizit geregelt, die im Jahr
1978 in Kraft trat. Um die Medikamenten- und Impfversuche in
Niedersachsen vertiefend zu untersuchen, hat das Sozialministerium
ein weiteres Forschungsprojekt beauftragt. Dieses soll die
Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie die
Rolle der öffentlichen Verwaltung in den Fokus nehmen.