Angriff in der Praxis - Ärzte und Helfer lernen Selbstverteidigung Von Simon Sachseder, dpa

Sanitäter und Feuerwehrleute werden behindert und angepöbelt - diese
Fälle erregten Aufsehen. Aber auch Ärzte und Mitarbeiter in
Arztpraxen bekommen die Aggression von Patienten zu spüren.

Stuttgart (dpa) - Eine Teilnehmerin greift ihrer Partnerin an die
Gurgel, diese versucht, sich zu befreien. «Guckt, dass ihr da
rauskommt - irgendwie», sagt Selbstverteidigungstrainer Wolfgang
Göbes. Der 49-Jährige arbeitet hauptberuflich als Polizeihundeführer.

In seiner Freizeit bringt er Ärzten und Praxisteams bei, wie sie auf
aggressive Patienten reagieren können.

18 Menschen sind an diesem Mittwoch in ein Stuttgarter Gewerbegebiet
gekommen, um eine Antwort auf die drohende Gefahr zu haben.
Dreieinhalb Stunden dauert der Kurs, zwei Drittel sind Theorie,
am Ende folgt ein Praxisteil. Mit dabei sind dieses Mal eine Ärztin,
ein Arzt und 16 medizinische Fachangestellte - alles Frauen. Sie
berichten von verbaler Gewalt, die eigentlich jeden Tag zwei Mal
vorkomme. Eine Angestellte erzählt, dass ein Patient ihrem Chef ein
Messer in den Bauch gestochen hatte.

Katja Neubauer, ebenfalls eine Praxismitarbeiterin, wurde
angegriffen, als sie ihre Auszubildende schützen wollte. Sie erzählt,
dass ein etwa 65-Jähriger seine Überweisung zu einem Facharzt sofort
wollte. Als er diese nicht bekam, ging er auf die Auszubildende zu,
Neubauer ging dazwischen. «Er hat mich dann am Handgelenk gepackt und
versucht, mich zu Boden zu reißen», sagt sie. Als sie drohte, die
Polizei zu rufen, floh der Patient. Angezeigt hat Neubauer ihn nie -
letztlich sei ja nichts Gravierendes passiert.

Laut dem Verband medizinischer Fachberufe sind nicht die Ärzte,
sondern die Angestellten am häufigsten betroffen - sie seien der
erste Ansprechpartner für den Patienten. Auch die Entwicklerin des
Kurses, Angelika Böhlhoff, sieht die Hauptlast bei den medizinischen
Fachangestellten: «Das ist schon die Frontfrau vorne - die bekommt
das Meiste ab.» Böhlhoff konzipiert die Fortbildungen für den Verband

Medi, der freie Praxen vertritt. Auch das Deeskalationstraining, das
zwei Polizisten leiten, hat sie entwickelt.

Nach einer Studie des Deutschen Ärzteblattes aus dem Jahr 2015 wurden
91 Prozent der Hausärzte bei ihrer Arbeit schon aggressiv angegangen.
Dem Ärztemonitor 2018 der kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge
hat jeder vierte niedergelassene Arzt Erfahrung mit körperlicher
Gewalt von Patienten gemacht. Genaue Zahlen für ganz Deutschland gibt
es nicht - die polizeiliche Kriminalstatistik weist Praxisteams nicht
gesondert als Opfertyp aus. In Baden-Württemberg sind zumindest die
Zahlen von Straftaten gegen Ärzte bekannt: 2017 gab es 92 Fälle. 2014
zählte das Landessozialministerium noch 62. Das Problem sei die hohe
Dunkelziffer, sagt Armin Marx, der zweite Ausbilder beim Training.

Der Bundesärztekammer zufolge berichten Ärzte, dass die Aggressivität

ihnen und anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen gegenüber
zunimmt. Beim Verband medizinischer Fachberufe klingt es ähnlich:
«Die medizinischen Fachangestellten in den Arztpraxen berichten von
einem zunehmend raueren Umgangston an den Anmeldungen und von offener
Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Team einer Arztpraxis», sagt die
Referatsleiterin für medizinische Fachangestellte, Barbara
Kronfeldner.

Katja Neubauer, die bereits vor vier Jahren angegriffen wurde, sagt:
«Es war schon erschreckend, was so ein Patient machen will - bloß
wegen einer Überweisung.» Damals arbeitete sie für einen Orthopäden

in Ludwigsburg bei Stuttgart. Aggressive Patienten sei sie gewöhnt -
vor allem, wenn es um verbale Angriffe gehe. Mittlerweile pralle das
ab. Für sie ist Frust der Auslöser vieler Angriffe. Die Ärzte seien
überlastet - Patienten müssten teilweise ein Jahr auf ihren Termin
warten. «Es sind wirklich zu wenige Fachärzte, die niedergelassen
sind», sagt die 31-Jährige.

«Wir haben eine Zunahme der Aggression an sich und eine Zunahme der
Patienten, die aggressiv werden - das hat es früher so nicht
gegeben», sagt Katrin Stockert-Schäfer, niedergelassene Frauenärztin

in Pforzheim. Der Patient schätze sich selbst zunehmend als Notfall
ein und wolle deshalb unbedingt den Termin haben, sagt die Ärztin.
«Der Respekt fehlt», ergänzt ihre Mitarbeiterin, Rebecca Rapp.

Stockert-Schäfer sieht ein Problem bei den Krankenkassen: Diese
deuteten an, dass es mit der Versichertenkarte alles kostenlos gebe.
«Die Realität ist leider eine andere.» Die Menschen hätten überha
upt
keine Einsicht mehr, dass manche Dinge einfach nicht funktionierten.
Ein weiterer Punkt seien häufig auch sprachliche Barrieren - fehlende
Verständigungsmöglichkeiten führten oft zu Aggressionen. Am Ende
erzählt sie, dass ein Kollege seine Praxis mittlerweile mit einem
Taser und einem Schlagstock ausgestattet hat.