Zweifel an Grenzwerten für Schadstoffe: Was hinter der Kritik steckt Von Valentin Frimmer und Annika Grah, dpa

Seit der Diskussion um Fahrverbote in deutschen Städten werden auch
die Messungen der Luftschadstoffe infrage gestellt. Jetzt haben
Lungenfachärzte Kritik an geltenden Grenzwerten geäußert. Ist sie
berechtigt?

Berlin (dpa) - In vielen Städten geht die Angst vor Fahrverboten um.
Da Grenzwerte für Luftschadstoffe wie Stickoxide dauerhaft
überschritten werden, müssen die Kommunen handeln. Schließlich ist
die Gesundheit der Bürger vor Ort in Gefahr. Oder stimmt das so gar
nicht? Zumindest zweifeln mehr als hundert Lungenspezialisten, ob die
Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub überhaupt wissenschaftlich
gerechtfertigt sind.

Was ist der aktuelle Forschungsstand?

In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie
und Beatmungsmedizin (DGP) von Ende 2018 heißt es:
«Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in
der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen
Grunderkrankungen gut belegt.» Feinstaub kann je nach Partikelgröße
bis in die Lunge oder den Blutkreislauf eindringen. Die Wirkung
reicht laut Umweltbundesamt von einer bloßen Reizung der Schleimhaut
und lokalen Entzündungen bis hin zu Ablagerungen in den Blutgefäßen.

Stickoxide schädigen vor allem das Gewebe in Bronchien und
Lungenbläschen und können vor allem Menschen mit chronischen
Atemwegserkrankungen beeinträchtigen.

Was ist die Kritik der Lungenspezialisten?

In der Stellungnahme, die 113 von 3800 angeschriebenen Experten
unterzeichnet haben, geht es grundsätzlich um die Herangehensweise
bei bestimmten Studien. So wird kritisiert, dass epidemiologische
Studien zwar «mehr oder weniger regelhaft eine sehr geringe
Risikoerhöhung in staubbelasteten Gebieten» finden. Daraus könne aber

nicht automatisch eine Ursache-Wirkung-Beziehung abgeleitet werden.
Es könnte ja sein, dass in bestimmten Gebieten der Lebensstil ein
grundsätzlich anderer ist. Sie sehen deshalb keine wissenschaftliche
Begründung der Grenzwerte und fordern eine Neubewertung der
relevanten Untersuchungen.

Ist die Kritik gerechtfertigt?

Sie ist relativ pauschal und greift nicht einzelne Untersuchungen
auf. Deshalb sind die Vorwürfe schwer nachzuprüfen. Umweltmediziner
betonen, dass es sehr viele und umfangreiche Studien gibt, die die
schädlich Folgen von Luftschadstoffen zeigen. Dabei handele es sich
sowohl um epidemiologische Studien als auch um Tierversuche und
Untersuchungen mit Menschen. Die gezeigten Effekte seien völlig
unabhängig von anderen Faktoren wie zum Beispiel dem Rauchen.
DGP-Präsident Klaus Rabe spricht von einer umfangreichen Datenlage,
verweist aber auch auf Lücken. Er plädiert für eine Etablierung einer

Mängelliste mit Blick auf die wissenschaftliche Erkenntnisse.

Welche Grenzwerte gibt es für Feinstaub und Stickoxide?

Feinstaub entsteht beispielsweise im Verkehr zum Beispiel durch
Verbrennungsmotoren, aber auch Reifenabrieb. Die Grenzwerte für
Feinstaub hängen von der Partikelgröße ab. Als besonders gefährlich

gelten Teilchen mit weniger als 2,5 Mikrometern Durchmesser (PM2,5),
die sich in Bronchien und Lungenbläschen festsetzen oder sogar ins
Blut übergehen können. Für sie gilt in Europa ein Wert von 25
Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. Für Teilchen mit
einem maximalen Durchmesser von 10 Mikrometer (PM10) liegt der
Tagesgrenzwert bei 50 Mikrogramm pro Kubikmeter und darf nicht öfter
als 35 Mal im Jahr überschritten werden. Bei den Stickoxiden
(NO2) darf gemäß dem EU-weiten Grenzwert im Jahresmittel die
Belastung im Freien nicht über 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft
liegen. Stickoxide sind Reizgase, die ebenfalls
bei Verbrennungsprozessen etwa im Straßenverkehr entstehen.

Woher kommen die Grenzwerte?

Sowohl die Werte für Feinstaub als auch für NO2 wurden vor Jahren auf
EU-Ebene festgelegt. Der gültige Jahresmittelwert für Stickoxide
beruht auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der
Grenzwert soll laut Umweltbundesamt die Gesundheit auch besonders
anfälliger Menschen schützen, selbst wenn sie dauerhaft den
Schadstoffen ausgesetzt sind. Die WHO hielt aber auch fest, dass es
bei Studien an der Bevölkerung schwierig ist, Wirkungen des NO2 von
denen anderer Luftschadstoffe zu trennen, da Menschen eben nicht nur
einem einzelnen Schadstoff ausgesetzt sind.

Welche Auswirkungen haben Grenzwert-Überschreitungen?

Bei den aktuellen Fahrverboten für ältere Dieselfahrzeuge geht es nur
um Stickoxide. Daten des Umweltbundesamtes beispielsweise belegen,
dass die meisten Stickoxide im Straßenverkehr von Dieselfahrzeugen
stammen. Mehrere Verwaltungsgerichte haben deshalb inzwischen
entschieden, ältere Diesel ganz oder teilweise aus den Städten
auszuschließen. Stuttgart hatte als erste Stadt Anfang des Jahres ein
flächendeckendes Fahrverbot eingeführt. Die Feinstaubwerte sind
bundesweit inzwischen soweit zurückgegangen, dass die Behörden laut
Umweltbundesamt nur noch wenige Überschreitungen messen können.