Kinderlähmung noch nicht besiegt - Sorge um Impfquoten in Deutschland

Um 99 Prozent sind die Fallzahlen bei Kinderlähmung seit 1988
weltweit gesunken. Besteht damit in Ländern wie Deutschland kein
Grund mehr zur Impfung?

Berlin (dpa) - Trotz weltweit gesunkener Fallzahlen von Kinderlähmung
halten Experten die Gefahr neuer Polio-Infektionen in Deutschland
nicht für gebannt. «Das Risiko einer Wiedereinschleppung ist
vorhanden», sagte Kathrin Keeren vom Robert Koch-Institut in Berlin
(RKI) der Deutschen Presse-Agentur vor dem Welt-Polio-Tag am 24.
Oktober. Gründe dafür sieht die Leiterin der Geschäftsstelle der
Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland in
sinkenden Impfquoten bei Kindern sowie in der Migration aus Ländern
mit Polio-Vorkommen.

«Wir müssen darauf achten, dass wir die Impfzahlen so hoch wie
möglich halten können», betonte Keeren. Die Impfquote bei der
Schuleingangsuntersuchung lag 2016 nach den aktuellsten RKI-Daten bei
93,9 Prozent. «Wir sehen das schon mit Sorge», sagte Keeren, «weiter

nach unten sollte es wirklich nicht gehen, wir sollten eher wieder
besser werden». Zuvor habe der Wert jahrelang bei um die 95 Prozent
gelegen. Diese Schwelle erachtet die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) für nötig, damit die Bevölkerung gegen ein Wiedereinschleppen
des Virus' gewappnet ist. Im Bundesland mit der niedrigsten Quote,
Baden-Württemberg, sind aber zum Beispiel nur noch neun von zehn
Kindern gegen Polio geimpft (90,6 Prozent).

Hat Kinderlähmung ihren Schrecken verloren? Hermann Josef Kahl,
Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, sagte, er
sehe bei Polio keine bröckelnde Impfbereitschaft. «Die Impfung ist
eine Selbstverständlichkeit heutzutage.» Lediglich in Einzelfällen
müsse man Eltern die unheilbaren Folgen der Krankheit wie bleibende
Lähmungen in Erinnerung rufen. Generell sei die Einstellung zur
Polio-Impfung aber «ganz anders als bei Masern», sagt Kahl.

Die WHO warnt indes: Solange ein einzelnes Kind infiziert ist,
bestehe für Kinder weltweit die Gefahr einer Ansteckung. Bislang gab
es laut Global Polio Eradication Initiative in diesem Jahr rund 19
Neuinfektionen bis Mitte Oktober, im gleichen Zeitraum des Vorjahres
waren es nur 11. Am stärksten betroffen ist Afghanistan mit 15 Fällen
- mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2017. Pakistan
hingegen scheint auf gutem Weg: Nach mehr als 300 Neuinfektionen 2014
waren es bisher in diesem Jahr nur vier. Dort gibt es großangelegte
Aktionen, bei denen binnen kurzer Zeit Millionen Kinder geimpft
werden.

Auch wenn die Zahlen insgesamt niedrig klingen: «Bei Polio haben wir
die Problematik, dass nur sehr wenig Fälle klinisch relevant sind.
Das heißt, auf 200 Infizierte kommt in etwa nur ein Erkrankter»,
erläutert Keeren. Deshalb gelte schon die Entdeckung eines Falles als
Ausbruch, weil man davon ausgehen müsse, dass es bis zu 200 weitere
Infizierte gibt. Diese scheiden das Virus aus und können andere
anstecken.

Am RKI laufen pro Jahr 2000 bis 3000 Untersuchungen, um das Auftreten
neuer Fälle hierzulande auszuschließen. Die Proben stammen von
Patienten mit Verdacht auf virale Gehirn- oder Hirnhautentzündung
sowie von Menschen mit akuten schlaffen Lähmungen. Diese Krankheiten
können durch sogenannte Enteroviren verursacht sein, zu denen auch
Polioviren zählen. Kinderkliniken und neurologische Kliniken können
entsprechende Proben kostenlos im Labornetzwerk für
Enterovirus-Diagnostik untersuchen lassen. «In den vergangenen Jahren
war in Deutschland kein Poliovirus nachweisbar», bilanziert Keeren.

Nachdem es in Syrien 2013 einen Polio-Ausbruch gab, wurden
Stuhlproben syrischer Asylbewerber in Deutschland untersucht - ohne,
dass Wildpolioviren gefunden wurden. Darüber hinaus wurde gezeigt,
dass Asylbewerber aus mehreren Poliorisikoländern ausreichend gegen
Polio geschützt sind, wie Keeren sagte.

Das Virus lebt und vermehrt sich im Magen-Darm-Trakt und kann unter
anderem über den Stuhl weiterverbreitet werden. Schlechte hygienische
Bedingungen begünstigen dies - anstecken kann man sich zum Beispiel
über verschmutztes Wasser. Polio trifft hauptsächlich Kinder im Alter
von bis zu fünf Jahren.

Im vergangenen Jahr wurden laut WHO 22 Infektionen mit sogenannten
Wildpolioviren erfasst, ein Rückgang um 99 Prozent seit 1988. Damals
waren noch 125 Länder weltweit betroffen. Eine in Deutschland
erworbene Ansteckung mit Wildpolioviren wurde zuletzt 1990 erfasst,
1992 waren letztmalig importierte Fälle hierzulande bekannt geworden.