Internet-Recherche: Zweiter Skripal-Attentäter war Militärarzt Von Friedemann Kohler und Christoph Meyer, dpa

Russlands Militäraufklärer durchleben peinliche Zeiten. Mehrere
spektakuläre Aktionen haben Spuren hinterlassen. Nun zerren
Computerfreaks Geheimnis auf Geheimnis ans Licht.

Moskau/London (dpa) - Der zweite russische Verdächtige beim
Giftanschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal ist von investigativen
Journalisten als Militärarzt des Geheimdienstes GRU enttarnt worden.
Fast täglich machen Rechercheure in Russland und Großbritannien
derzeit Details aus dem Innenleben des Dienstes öffentlich. Sie
setzen die militärischen Aufklärer, Speerspitze des Kremls in vielen
internationalen Konflikten, in denkbar schlechtes Licht.

Das Recherchenetzwerk Bellingcat hat nach eigener Mitteilung den Mann
identifiziert, der nach britischen Angaben unter dem Decknamen
Alexander Petrow agiert hat. Alexander Mischkin soll er heißen,
geboren am 13. Juli 1979 im Dorf Lojga bei Archangelsk in
Nordrussland, ausgebildeter Marinearzt. Zeugen hätten Mischkins
Identität bestätigt, schrieben Bellingcat und das russische Portal
The Insider am Montag. Am Dienstag ergänzten sie: Präsident Wladimir
Putin habe Mischkin 2014 den Titel «Held Russlands» verliehen.

Der russische Doppelagent Skripal und seine Tochter Julia hatten
Anfang März eine Vergiftung mit dem in der früheren Sowjetunion
entwickelten chemischen Kampfstoff Nowitschok knapp überlebt. Eine
unbeteiligte Frau starb durch Kontakt mit dem Gift. Der zweite Mann
bei dem Anschlag im Städtchen Salisbury in England nannte sich Ruslan
Boschirow. Er ist als Oberst Anatoli Tschepiga in Diensten des GRU
identifiziert worden.

Doch nun ein Arzt mit Mordauftrag? Der hippokratische Eid gilt wie in
Deutschland, aber russische Mediziner müssen ihn tatsächlich noch
ablegen. Sie versprechen, keinem Patienten Schaden zuzufügen. «Der
Schwur wird in feierlicher Umgebung abgelegt», heißt es im Gesetz.

Der Fall Skripal hat bereits schwere internationale Verwicklungen
ausgelöst, Dutzende Diplomaten wurden ausgewiesen. Doch Moskau bleibt
dabei, alle Vorwürfe zurückzuweisen. Auch am Dienstag sagte
Kremlsprecher Dmitri Peskow, man werde sich nicht über die Medien mit
den Recherchenetzwerken auseinandersetzen.

Dabei hat Putin deren Ehrgeiz womöglich erst angeheizt, als er im
September sagte, die Herren Petrow und Boschirow seien harmlos. In
einem skurrilen Interview mit dem Staatssender RT stellten sie sich
als Verkäufer von Sportlernahrung dar, die als Touristen das
wunderschöne Salisbury und dessen berühmte Kathedrale besucht hätten.


Relativ schnell kamen Bellingcat und The Insider an deren
Passanträge, in denen nichts zu einem Vorleben stand. Dafür wurde auf
eine Telefonnummer des Verteidigungsministeriums verwiesen. Die
Endziffern der Passnummern folgen dicht aufeinander, auch der Pass
eines dritten enttarnten GRU-Spions gehört in diese Serie. Das legt
die Frage nahe, ob der Geheimdienst unvorsichtigerweise nicht noch
mehr Agenten mit solchen Pässen ausgestattet hat.

Großen Flurschaden richtete auch das Auffliegen von vier Agenten in
den Niederlanden an, die sich mutmaßlich in die Computer der
Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) hacken wollten.
Einen Namen entdeckte The Insider in der Zulassungskartei der
Moskauer Verkehrspolizei wieder. «Das ist eine der am leichtesten
zugänglichen Datenbanken in Russland», schrieben die Journalisten.

Der Agent hatte sein Auto auf seine Dienstadresse in Moskau
angemeldet. In dem Gebäude soll auch die GRU-Hackertruppe Fancy Bear
sitzen, die für Cyberattacken auf die US-Präsidentenwahl 2016
verantwortlich gemacht wird. Und siehe da: Insgesamt fanden sich in
der Kartei 305 Autos, die auf diese Adresse zugelassen sind, dazu die
Namen, Geburtsdaten und Handynummern ihrer Besitzer.

Das sei die «größte Geheimdienstblamage im modernen Russland»,
schrieb der Experte Alexander Gabujew vom Moskauer Carnegie-Zentrum.
Er sah eine fatale Kombination «von notorischer Inkompetenz und
banaler Korruption» am Werk. Denn warum nutzten die Agenten ihre
Dienstadresse? Um im Fall von Verkehrsverstößen geschützt zu sein.

Zeitungen und Fernsehen in Russland berichten unter politischem Druck
kaum noch investigativ. Doch Internetportale wie The Insider, das
Conflict Intelligence Team (CIT) oder fontanka.ru in St. Petersburg
tragen Informationen aus sozialen Netzwerken, aus öffentlichen und
halböffentlichen Datenbanken zusammen. Sie forschen zur militärischen
Lage in Syrien genauso wie zu Korruption. Einstweilen lässt man sie
gewähren, doch die Arbeit bleibt riskant.

Im Fall Mischkin alias Petrow führte sie die These zum Erfolg, dass
in der Legende des Agenten noch viel von der echten Lebensgeschichte
stecke. Tatsächlich waren nur Familienname und Geburtsort geändert
worden.

Die britische Regierung wollte sich zu den neuen Berichten nicht
äußern. Es handle sich um eine geheimdienstliche Angelegenheit, sagte
der zuständige Staatssekretär Ben Wallace. Er warnte aber davor, den
GRU wegen dessen augenscheinlicher Tollpatschigkeit zu unterschätzen.
«Es ist leicht, über einige der groben Techniken des GRU und seine
Fähigkeiten zu lachen. Wir sollten ihn und den skrupellosen Einsatz
von Nervengift auf unseren Straßen aber nicht unterschätzen.»

Die Webseite Bellingcat, die sich mit dem Slogan «The home of Online
Investigation» (Heimat der Online-Recherche) schmückt, wurde von dem
Blogger Eliot Higgins gegründet. Der britische Studienabbrecher hat
sich auf die Auswertung öffentlich zugänglicher Internet-Infos zum
Syrienkrieg spezialisiert. Bellingcat hat inzwischen zehn feste
Mitarbeiter und etliche Freiwillige. Seine Kenntnisse setzte Higgins
auch bei Recherchen zum Abschuss der malaysischen Boeing MH17 über
der Ukraine 2014 ein. Er fand Hinweise auf eine Verwicklung Moskaus.