Zankapfel Kindergeld: Zwischen Mythen und Wahrheiten Von Georg Ismar und Carsten Linnhoff, dpa

Ja, es gibt Betrug beim Kindergeld. Und ja, es gibt auch Betrug bei
Zahlungen für Kinder im EU-Ausland. Aber längst nicht flächendeckend.

Wie ist die Lage? Und wie groß ist das Problem tatsächlich?

Berlin (dpa) - Eine Reihe deutscher Städte wie Fürth, Bremerhaven
oder Duisburg beklagt Probleme mit Betrugsfällen beim Kindergeld.
Doch Karsten Bunk, Leiter der zuständigen Familienkasse bei der
Bundesagentur für Arbeit (BA), betont: «Natürlich gibt es
Missbrauchsfälle, aber man muss bei der Diskussion aufpassen, dass
das nicht zu einseitig instrumentalisiert wird.» Zahlen und Fakten
zur Debatte:

Wie viele Kinder beziehen Kindergeld in oder aus Deutschland?

Ende Juni waren es 15,29 Millionen. 12,27 Millionen dieser Kinder
haben die deutsche Staatsbürgerschaft, rund drei Millionen sind
Ausländer. Die allermeisten von ihnen leben in Deutschland. 268 336
Kinder beziehen im europäischen Ausland Kindergeld vom deutschen
Staat. Darunter sind aber auch 31 512 Kinder mit deutschem Pass, etwa
weil ihre Eltern für einen deutschen Arbeitgeber im Ausland arbeiten.

Woher stammen die meisten ausländischen Kinder?

Unter den EU-Ausländern, die Kindergeld aus oder in Deutschland
bekommen, liegt Polen mit 277 551 Empfängern vorn, aus Rumänien sind
es 138 217. Den Spitzenplatz nehmen Kinder türkischer Herkunft ein -
mit 587 393 Empfängern. 2017 flossen insgesamt 35,9 Milliarden Euro
Kindergeld, davon 7,2 Milliarden Euro an Kinder ausländischer
Herkunft.

Wie viel Kindergeld wird überhaupt gezahlt?

In Deutschland gibt es derzeit für das erste und zweite Kind jeweils
194 Euro im Monat. Für das dritte sind es 200 Euro, ab dem vierten
Kind 225 Euro. Zum Vergleich: In Bulgarien gibt es rund 20, in
Rumänien 18 bis 43 Euro im Monat.

Ist die Zahl ausländischer Empfänger angestiegen?

Ja. Seit Ende 2017 ist die Zahl der Kinder, die außerhalb
Deutschlands in der EU oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben und
Kindergeld aus Deutschland bekommen, um 10,4 Prozent gewachsen. Aber
auch die Zahl der Empfänger im Inland steigt. Vor fünf Jahren gab es
erst rund 2,1 Millionen ausländische Kindergeldempfänger hierzulande.

Woran liegt das?

Das hängt vor allem mit der europäischen Freizügigkeit zusammen. Auch

werden immer mehr Fach- und Pflegekräfte aus anderen Ländern
gebraucht. Und auch der Brexit, also der geplante EU-Austritt
Großbritanniens, führt zu einer Verlagerung von Arbeitskräften
Richtung Deutschland. Die Menschen zahlen dann hier Sozialbeiträge.
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Osteuropa
ist von 2015 bis 2017 um 295 000 auf knapp 1,2 Millionen gestiegen.

Warum dann die Aufregung?

Weil es gerade aus Rumänien und Bulgarien nach Meinung mehrerer
Oberbürgermeister eine verstärkte Migration gibt, um Kindergeld zu
kassieren. Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) sieht
Schlepper am Werk, die Menschen in schrottreifen Wohnungen
unterbringen, ihnen eine Scheinbeschäftigung verschaffen und oft
einen Teil der Kindergelder einkassieren. Romani Rose, Vorsitzender
des Zentralrats der Sinti und Roma, warnt vor Stimmungsmache und
betont: «Die betroffenen Familien sind die Opfer von kriminellen
Banden, deren Hintermänner in der Regel deutsche Staatsbürger sind.»


Wie groß ist das Ausmaß des Betrugs?

Die Familienkasse betont, es gebe keinen flächendeckenden Betrug.
Stichproben ergaben einzelne Missbrauchsfälle vor allem in
Nordrhein-Westfalen. Beim Kindergeld für Personen, die aus dem
Ausland kommen, um hier zu arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat
geblieben sind, «findet so gut wie kein Missbrauch statt».

Schlaglicht Duisburg: Wie ist die Lage dort und was tut die Stadt?

In der Revierstadt leben besonders viele Zuwanderer aus Südosteuropa,
aktuell sind es knapp über 19 000. Viele von ihnen wohnen in völlig
heruntergekommenen Häusern. Bereits seit 2014 ist die «Task Force
Problemimmobilien» im Einsatz. Im September 2016 hatte die Verwaltung
120 sogenannte Problemhäuser identifiziert, in denen die Eigentümer
Wohnungen mit erheblichen Mängeln zu überhöhten Mieten an Zuwanderer

vermieten. Durch das seit 2014 in Nordrhein-Westfalen geltende
Wohnungsaufsichtsgesetz konnte die Stadt die Vermieter zwingen, die
Häuser herzurichten, Bußgelder verhängen oder die Häuser für
unbewohnbar erklären.

Wie sieht es heute in Duisburg aus?

Inzwischen stehen noch 53 Häuser mit Mängeln wie Schimmel,
unhaltbaren hygienischen Zuständen, mangelhafter Elektronik und
Vermüllung auf der Liste. Seit Herbst 2017 wurden 37 Häuser
begutachtet. 30 davon schloss die Stadt komplett, fünf teilweise. Mit
Landesmitteln können die Kommunen in NRW auch Schrottimmobilien
aufkaufen, die missbräuchlich vermietet werden. In den Stadtteilen
Marxloh und Hochfeld will die Stadt das jetzt umsetzen. In Marxloh
hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft das erste Haus übernommen.

Wie ist die Lage in anderen Städten im Ruhrgebiet?

Ähnlich wie in Duisburg haben auch andere Revierstädte wie
Gelsenkirchen, Dortmund oder Hagen auf die Zuwanderung reagiert und
Arbeitsgruppen aus Verwaltung, Polizei und Justiz gebildet. Auch in
Gelsenkirchen schaut eine Arbeitsgruppe der Verwaltung genau hin und
prüft Hinweise auf Missbrauch. «Wir schauen, wer ist wo gemeldet,
bezieht Kindergeld und das vielleicht mit auffälligen Papieren»,
erklärt Stadtsprecher Martin Schulmann. In Dortmund hatte die
Verwaltung 2017 für die Nordstadt 85 «Problemimmobilien» ausgemacht.

Ein erstes Haus wurde aufgekauft, bei drei weiteren läuft die
Vorbereitung.

Gibt es bundesweite Zahlen zum Missbrauch beim Kindergeld?

Nein. Auf eine AfD-Anfrage antwortete die Bundesregierung im März:
«Die gewünschten Zahlen können nicht genannt werden, da eine
Statistik über Missbrauchsfälle beim Kindergeld nicht existiert.»

Was will die Bundesregierung tun?

Neben mehr Datenabgleich und dem Aufspüren von Betrug etwa durch
gefälschte Geburtsurkunden für Kinder, die gar nicht existieren, will
die Koalition von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit Jahren die
steigenden Kosten von mehreren hundert Millionen Euro im Jahr für im
Ausland lebende Kinder dämpfen. Und zwar durch eine sogenannte
Indexierung, also eine Zahlung, die sich an den Lebenshaltungskosten
in dem jeweiligen Land orientiert. Österreich plant das in einem
nationalen Alleingang.

Warum ist das umstritten?

Die EU-Kommission sieht dadurch einen Verstoß gegen das EU-weite
Diskriminierungsverbot. «Wenn ein Arbeitnehmer in ein nationales
Sozialversicherungssystem einzahlt, sollte er die gleichen Leistungen
erhalten wie jeder andere, der einzahlt - unabhängig von seiner
Nationalität und vom Wohnort seiner Kinder», sagt eine Sprecherin.