Die übermüdete Gesellschaft - Schlafforscher schlagen Alarm Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Stimmt. So manche
andere Weisheit finden Schlafforscher aber schlichtweg falsch - vor
allem das Lob aufs frühe Aufstehen.

Berlin (dpa) - Der frühe Vogel fängt den Wurm und Morgenstund' hat
Gold im Mund? Nicht für Schlafforscher Hans-Günter Weeß. «Wir sind

eine Gesellschaft, die den Schlaf nicht schätzt», kritisiert der
Psychologe, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für
Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Im Ergebnis sei Deutschland
im Vergleich zu Nachbarländern eine übermüdete Nation. Die Nachteile

begännen schon beim frühen Schulbeginn. Eine Bilanz zum «Tag des
Schlafs» am 21. Juni:

SCHLAFLOS IN ZAHLEN: Wenn ein Mensch in einem Monat an mindestens
drei Nächten in der Woche kaum einschlafen oder durchschlafen kann,
braucht er nach Ansicht von Schlafforschern Hilfe. «Entscheidend ist,
ob es am nächsten Tag zu Beeinträchtigungen kommt, zum Beispiel bei
Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistung», sagt Weeß.
«Deutliche Anzeichen für Übermüdung sind auch Gereiztheit,
Kopfschmerzen und Magen-Darm-Probleme.» Nach Studien der DGSM leiden
in Deutschland sechs Prozent der Bevölkerung an chronischen
Schlafstörungen - das sind rund 4,8 Millionen Menschen.

SCHLAFBEDÜRFNIS: Für Forscher geben bei jedem Menschen die Gene vor,
wie viel Zeit er im Bett verbringt. Für die meisten Menschen liege
das zwischen sechs und acht Stunden. Einige brauchen aber noch mehr,
andere weniger Schlaf. Freiwillige Frühaufsteher und überzeugte
Nachteulen folgen ihrer inneren Uhr. «Solche Anlagen können wir uns
nicht abtrainieren», berichtet Wissenschaftler Weeß. Der individuelle
Biorhythmus lasse sich nicht austricksen. Ein erzwungenes Leben gegen
die innere Uhr münde meist in Erschöpfung. Und ein Mittagsschlaf
helfe nur, wenn er nicht länger als 15 bis 20 Minuten dauere.

SCHULE: In Deutschland beginnt sie meist zwischen 7 und 8 Uhr. Das
ist deutlich früher als in vielen Nachbarländern, die oft erst ab
8.30 Uhr starten. «Wenn wir unser Bildungssystem reformieren wollen,
sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, die Schule später beginnen
zu lassen», sagt Weeß. Studien hätten belegt, dass vor allem Teenager

Mathematik-Aufgaben um neun oder zehn Uhr deutlich besser lösten als
um acht Uhr. Bei Grundschülern gebe es bei der Konzentrationsleistung
einen belegten Zusammenhang zwischen der Entfernung der Schule zum
Wohnort. Wer um sechs oder sieben Uhr früh im Schulbus sitzen muss,
hat nach Studien deutlich schlechtere Karten.

ARBEITSWELT: In Umfragen sprechen sich zwei Drittel der Eltern gegen
einen späteren Schulbeginn aus, weil sie in ihren Berufen keine
flexiblen Arbeitszeiten haben. «Daran sehen wir, dass das ein
gesamtgesellschaftliches Problem ist», sagt Weeß. «Dabei brauchen wir

alle mehr Schlaf. Wir müssen die Arbeitswelt anpassen.» Im Moment
passiere aber eher das Gegenteil. Statt flexibler Acht-Stunden-Tage
dehne sich die Arbeitszeit durch Internet und mobile Medien immer
weiter aus. «Wir sind bald eine 24-Stunden-Non-Stop-Gesellschaft»,
kritisiert Weeß. «Es ist die Frage, ob Supermärkte oder
Fitnessstudios rund um die Uhr offen sein müssen.» Es gebe laut
Studien pro Jahr rund 200 000 Fehltage auf Grund von Schlafstörungen.
«Das heißt, jedes Jahr gehen der deutschen Wirtschaft 60 Milliarden
Euro durch die Übermüdung ihrer Mitarbeiter verloren.»

UNFÄLLE: Zu wenig Schlaf ist Gift hinterm Steuer. Das relative
Risiko, einen Unfall zu bauen, potenziere sich allein schon beim
Fahren zwischen zwei und fünf Uhr nachts um das Fünffache, sagt
Maritta Orth, Schlafmedizinerin und Lungenfachärztin. Denn in dieser
Zeit liege das absolute Leistungstief. Weniger als fünf Stunden
Schlaf in der Nacht zuvor können aber auch tagsüber zu deutlich mehr
Crashs führen. Denn Übermüdung kann einen ähnlichen Effekt auf den

Körper haben wie Alkohol am Steuer - Konzentrationsfähigkeit und
Reaktionsgeschwindigkeit lassen nach. Krankheiten wie eine
Schlafapnoe erhöhen das Unfallrisiko jederzeit um das Zwei- bis
Dreifache.

APNOE: Sie ist die bekannteste Schlafstörung und oft mit heftigem
Schnarchen verbunden. Patienten kommen durch mehr als 15
Atemaussetzer pro Stunde nachts nicht in den nötigen Tiefschlaf
hinein, bei dem sich der Körper erholt. Zusätzlich fehlt ihnen der
Traumschlaf für die seelische Erholung. Dieser Schlafmangel wird am
Tag nachgeholt - Betroffene nicken dabei auch gegen ihren Willen ein.
Goldstandard für eine Therapie ist eine Nasenmaske, die an einen
Druckgenerator angeschlossen ist. Sie sorgt im Schlaf dafür, dass die
Zunge an den Mundboden gedrückt wird und den Kehlkopf nicht
verschließen kann. «Die Maske macht nicht schöner, aber für operati
ve
Maßnahmen wie Schrittmacher sind nicht alle Patienten geeignet», sagt
Orth. Der Schrittmacher wirkt auf die Muskulatur der Zunge.

DIE FOLGEN: Rund 80 verschiedene Schlafstörungen sind bekannt. Ihr
Zusammenhang mit anderen Krankheiten werde zu häufig noch nicht
gesehen, berichtet Orth. Schlafstörungen wie Apnoe können erhöhten
Blutdruck, erhöhte Neigung zum Schlaganfall, Herzrhythmusstörungen
und den plötzlichen Herztod begünstigen, weil sie Schäden an Gefä
ßen
verursachen.

ZU VIELE PILLEN: Bis zu 1,9 Millionen Menschen in Deutschland nehmen
nach Angaben der Fachgesellschaft regelmäßig Schlafmittel ein. Die
Tabletten haben aber keine heilende Wirkung. Werden sie abgesetzt,
ist die Störung sofort wieder da. «Wir müssen Menschen beibringen,
ihre eigene Schlaftablette zu sein - also das erholsame Schlafen zu
lernen», rät Weeß.

DER KLEINE UNTERSCHIED: Frauen schlafen länger als Männer. Allerdings

gelten sie durch hormonelle Schwankungen, Schwangerschaften und
Menopause im Lauf ihres Lebens als anfälliger für Schlafstörungen.
Eine große Rolle spielt die Psyche. «Frauen haben dünnere Grenzen»,

sagt Weeß. «Sie lassen Probleme dichter an sich heran und nehmen sie
leichter mit ins Bett.» Anspannung aber gilt als Hauptfeind des
Schlafs.