Die Bundesbürger greifen früher zum Hörgerät Von Oliver von Riegen, Andrea Löbbecke und Thomas Frey , dpa

Beim Anpassen eines Hörgerätes spielt der Spiegel eine große Rolle.
Allerdings lassen immer kleinere und leistungsfähigere Geräte die
kosmetischen Bedenken oft schwinden.

Mainz/Koblenz (dpa) - Wer Hörprobleme hat, greift nach Ansicht von
Experten später als nötig zum Hörgerät. Viele Menschen haben demnac
h
Hemmschwellen, sich einen «Knopf im Ohr» zuzulegen. Eine
Schwerhörigkeit muss im Schnitt mit 60 Jahren versorgt werden,
schätzt die Bundesinnung der Hörakustiker, die Interessenvertretung
der Branche. Das Durchschnittsalter für die Erstversorgung lag im
vergangenen Jahr aber bei 68 Jahren. Zugleich wird die Gesellschaft
immer älter. Innungssprecherin Juliane Schwoch in Mainz vermutet,
dass der Spiegel eine große Rolle spielt: «Gründe dafür dürften
ausschließlich in der (Alters-) Eitelkeit zu suchen sein.»

Die Bundesbürger legen sich ihr erstes Hörgerät dennoch früher zu a
ls
bisher: Das Durchschnittsalter für die Erstversorgung betrug vor zehn
Jahren noch 72, ist also bis 2017 im Schnitt um vier Jahre gesunken.
«Mit zunehmender Miniaturisierung der Technologien dürfte der Trend
zu einer frühen Versorgung in den nächsten Jahren zunehmen», schätz
t
die Branche. Denn die Geräte werden immer kleiner - Richtmikrofone,
Bluetooth und die Energieversorgung können inzwischen in sehr kleinen
Gehäusen untergebracht werden.

Die größte gesetzliche Krankenkasse, die Techniker (TK), hält
Eitelkeit für einen möglichen Grund für den späten Griff zum
Hörgerät. «Weitere Erkrankungen wie beispielsweise eine Depression
oder Demenz können eine Rolle spielen, weshalb Betroffene der
Schwerhörigkeit nicht nachgehen», sagt eine Sprecherin. Manche
Betroffene reagierten bei Schwerhörigkeit ausweichend: «Radio und
Fernseher können lauter gestellt werden, vielleicht ist der eine oder
andere auch einmal froh, manches nicht zu hören.»

Auch die Barmer Ersatzkasse sieht Hinweise, dass viele schwerhörige
Menschen erst spät einen Facharzt aufsuchen. «Ein Blick auf die
Anträge von Hörgeräten zeigt, dass diese öfter bereits
fortgeschrittene Hörverluste beinhalten und nur selten geringe», so
ein Sprecher. Ein Grund könne sein, dass eine Hörminderung meist
schleichend erfolgt. Außerdem gelte das Tragen eines Hörgerätes auch

heute noch als nicht besonders attraktiv.

TK und Barmer haben über die Versorgung mit Hörgeräten einen Vertrag

mit der Bundesinnung der Hörakustiker abgeschlossen. Demnach ist der
Hörakustiker verpflichtet, dem Kunden mindestens ein geeignetes,
aufzahlungsfreies Gerät anzubieten. Dafür übernehme die Kasse
komplett die Kosten, teilte der Barmer-Sprecher mit. Es wird nur eine
gesetzliche Zuzahlung von zehn Euro fällig. Wählt ein Versicherter
ein aufzahlungspflichtiges Hörgerät, muss er die Mehrkosten selbst
tragen - auch bei Reparaturen. Inwiefern zusätzliche Funktionen
sinnvoll seien, könne die Kasse nicht beurteilen. «Ob sie ein noch
besseres Hören ermöglichen, darf aber zumindest bezweifelt werden.»

Die Ausgaben der gesetzlichen Kassen für Hörhilfen lagen 2016 nach
Angaben des GKV-Spitzenverbands bei knapp 938 Millionen Euro, das
sind 86 Prozent mehr als fünf Jahre vorher.

Die Zahl verkaufter Hörgeräte pro Jahr in Deutschland hat sich seit
2007 praktisch verdoppelt. Waren es vor zehn Jahren noch 685 000,
gingen 2017 rund 1,25 Millionen weg, berichtet die Bundesinnung.

«Wenn wir Hörsysteme anpassen, geben wir den Menschen auch einen
Spiegel in die Hand», sagt Eva Keil-Becker aus Koblenz,
Präsidiumsmitglied der Europäischen Union der Hörakustiker. Das
Aussehen spiele selbstverständlich eine große Rolle. «Wenn die Leute

zu uns kommen, ist oft das wichtigste die Kosmetik. Wenn sie dann die
Technik kennenlernen, tritt dieser Aspekt aber in den Hintergrund.»
Nach Beobachtungen der Hörakustikermeisterin gibt es einen
gesellschaftlichen Wandel, das Hörgerät gewinne an Akzeptanz. Das
liege auch daran, dass die Branche offensiver auf die Menschen
zugehe.

Warum tun sich Menschen oft mit einer Brille soviel leichter als mit
einem Hörgerät? «Ich denke, das hat auch etwas mit der Geschichte der

beiden Hilfen zu tun», sagt Diplom-Psychologin Julia Scharnhorst. Der
Vorläufer des Hörgerätes - das Hörrohr - sei sehr auffällig gewes
en
und wurde ausschließlich Alten und Gebrechlichen zugeordnet. «Schicke
Sehhilfen, wie beispielsweise edle Zwicker, gab es dagegen immer
schon, auch als Symbol der sozialen Überlegenheit», sagt Scharnhorst.

«Hörgeräte werden oft dann besonders auffällig, wenn man verzweifel
t
versucht, sie zu verbergen», erklärt sie und rät Schwerhörigen,
selbstbewusst mit dem Handicap umzugehen. Die Psychologin rechnet
damit, dass die Stigmatisierung von Hörgeräten nachlassen wird -
auch, weil immer mehr Männer und Frauen eines tragen. Dass vor allem
ältere Menschen oft ein Hörgerät ablehnten, liege daran, dass
Schwerhörigkeit mehr als schlechtes Sehen ein Zeichen des Alterns
sei.

Rund 2270 Hörakustiker-Unternehmen mit 6400 Meisterbetrieben gibt es
in Deutschland. Die Branche machte nach eigenen Angaben im
vergangenen Jahr 1,4 Milliarden Euro Umsatz - wie 2016. Der Umsatz
verteile sich damit auf mehr Betriebe. Es gebe einen Trend zur
Filialisierung, aber damit verschwänden kleinere Anbieter nicht, sagt
die Innungssprecherin.