Mächtige SPD-Verbände setzen Schulz unter Zugzwang

Viele in der SPD wollen sich mit den Ergebnissen der Sondierungen
über eine große Koalition nicht zufrieden geben. Vor dem
entscheidenden Parteitag spitzt sich die Diskussion darüber zu.
Könnte dieser Punkt eine Brücke sein für Parteichef Schulz?

Bonn/Berlin (dpa) - Kurz vor dem SPD-Parteitag haben die mächtigen
Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Hessen die Parteispitze mit
Bedingungen für die Koalitionsverhandlungen unter Zugzwang gesetzt.
Die NRW-SPD veröffentlichte am Samstag den Entwurf für einen Antrag,
den auch die Hessen-SPD inhaltlich mitträgt. Darin heißt es, dass in
den drei Knackpunkten sachgrundlose Befristung von
Arbeitsverhältnissen, Krankenversicherung und Familiennachzug von
Flüchtlingen «substanzielle Verbesserungen erzielt werden müssen».

Offen ist, ob die Parteispitze in dieser Frage auf die Länder zugehen
könnte, um damit noch Skeptiker einer weiteren großen Koalition auf
ihre Seite zu ziehen.

Die Spitzengremien der SPD berieten am Samstag bis in den Abend, um
den Parteitag vorzubereiten. Am Samstagabend und Sonntagmorgen dürfte
es hinter den Kulissen weitere Gespräche geben, um den Kurs für den
Parteitag abzustecken. Aus SPD-Kreisen hieß es, die Antragskommission
werde am Samstagabend und Sonntagmorgen über eine Erweiterung des
Leitantrages beraten. Bisher werden darin Koalitionsverhandlungen
«auf Basis der Sondierungsergebnisse und des SPD-Wahlprogramms»
empfohlen. Nun ist die Frage, ob die SPD-Führung gewisse Forderungen
der großen Landesverbände übernehmen könnte, um die GroKo-Kritiker
in
deren Reihen zu besänftigen.

Am Sonntag entscheiden die mehr als 600 Delegierte auf dem Parteitag
in Bonn über Verhandlungen mit der Union, die dann schon am Montag
beginnen könnten - vier Monate nach der Bundestagswahl.

Die Union hat wesentliche Nachbesserungen an den
Sondierungsergebnissen ausgeschlossen. Der stellvertretende
CDU-Vorsitzende Thomas Strobl reagierte verärgert auf die Forderungen
aus der SPD. «Diese immer neuen Runden helfen nichts und niemandem»,
sagte der baden-württembergische Innenminister der Funke
Mediengruppe. «Über Details sprechen wir noch - aber Grundlegendes,
das nicht im Sondierungspapier steht, kommt auch nicht in die
Koalitionsverhandlungen.»

Auch in der SPD-Spitze wird die Forderung nach grundlegenden
Änderungen am Sondierungspapier skeptisch gesehen. Fraktionschefin
Andrea Nahles hatte davor gewarnt, sich «Illusionen» zu machen. Über

die SPD-Forderungen nach einer Bürgerversicherung und einer
Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen
sei bereits hart gerungen worden, sagte sie vor wenigen Tagen. «Ich
kann mir nicht vorstellen, dass sich die Position der Union über
Nacht wirklich auflöst.» SPD-Chef Martin Schulz hatte am Mittwoch
dagegen mehr Spielraum angedeutet und gesagt, in
Koalitionsverhandlungen werde «sicher das eine oder andere noch
dazukommen».

Niedersachsens Innenminister und SPD-Vorstand Boris Pistorius
kritisierte den Vorstoß aus NRW und Hessen. Der Antragsentwurf
erschwere das Geschäft eher, «weil er neue Hürden aufbaut», sagte e
r.

Die Landesverbände Hessen und Nordrhein-Westfalen stellen in Bonn
zusammen 216 Delegierte und damit mehr als ein Drittel der
Gesamtzahl. In dem Antragsentwurf wird die ersatzlose Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung und eine erweiterte Härtefallregel für den
Familiennachzug von Flüchtlingen gefordert. Außerdem solle der
«Einstieg in das Ende der Zwei-Klassen-Medizin» durch eine
Angleichung der Honorarordnungen für gesetzlich und privat
Versicherte erzielt werden.

In dem Antragsentwurf heißt es, die Parteispitze solle einen
Koalitionsvertrag aushandeln, «der diese Verbesserungen enthält». Das

klingt nach einer ganz klaren Bedingung. Über einen Koalitionsvertrag
müssten am Ende die mehr als 440 000 SPD-Mitglieder abstimmen. Damit
gibt es auch nach dem Parteitag und den Verhandlungen mit der Union
noch eine Möglichkeit, die große Koalition zu stoppen - falls die
Bedingungen nicht erfüllt werden.

In der SPD gibt es massiven Widerstand gegen eine Neuauflage eines
Bündnisses mit CDU und CSU. Die komplette Parteiprominenz wirbt aber
für Verhandlungen. Schulz wies die Delegierten eindringlich auf die
Tragweite ihrer Entscheidung hin: «Am Sonntag schaut nicht nur das
ganze politische Deutschland nach Bonn. Sondern auch ein großer Teil
Europas», sagte er der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung».
«Ich habe keinen Zweifel, dass sich alle Delegierten ihrer
Verantwortung bewusst sind.»

Auch die CDU-Chefin, Kanzlerin Angela Merkel, mahnte bei einem Besuch
in Bulgarien: «Die Welt wartet nicht auf uns.»

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gab sich zuversichtlich. «Am Ende
wird es grünes Licht für weitere Verhandlungen geben», sagte er der
«Bild»-Zeitung (Samstag). Würde der Parteitag aber gegen den Kurs der

SPD-Spitze votieren, hätte das wohl dramatische Folgen. Schulz könnte
sich in dem Fall wohl kaum auf dem Chefposten der Partei halten. Die
SPD-Führung wäre beschädigt. Ein weiterer Absturz im Fall einer
Neuwahl würde drohen. Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, dass
die Delegierten dies in Kauf nehmen. Doch absolut sicher ist sich da
niemand.