Stille Tragödien - mögliche Ursachen für das Organspende-Drama Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Die Zahl der Organspender ist in Deutschland 2017 auf einen Tiefpunkt
gesunken. Damit warten noch mehr todkranke Menschen auf eine Chance.
Für die Misere gibt es wohl mehr als einen Grund.

Berlin (dpa) - Das Sauerstoffgerät in der Berliner Charité zischt
leise. Ein blauer Schlauch endet in der Nase von Wolfgang Wachs. Sein
Lebensradius ist auf zehn Quadratmeter zusammengeschrumpft, auf die
Größe seines Krankenzimmers auf der Lungenstation. Der kleine gelbe
Rettungshubschrauber, ein Spielzeugmodell neben dem Bett, lässt
ahnen, was das für ihn bedeutet. Wachs (60) ist Notarzt mit
Leidenschaft. Die vergangenen 20 Jahre ist er als Lebensretter zur
Stelle gewesen, auf der Straße, zu Wasser und schließlich auch mit
dem Helikopter aus der Luft. Nun ist er ein todkranker Patient, den
nur noch eine Organspende retten kann - eine neue Lunge.

2011 bekam Wachs die Diagnose Lungenfibrose, eine seltene und
rätselhafte Krankheit, bei der die Lunge versteift und den Körper mit
immer weniger Sauerstoff versorgt. Weihnachten 2016 gab er seinen Job
auf, ihm fehlte die körperliche Kraft. Weihnachten 2017 verbrachte er
schon in der Charité, weil es zu Hause in Brandenburg nicht mehr
ging. Und immer noch wartet er. Auf einen Anruf, auf die erlösende
Nachricht, dass es eine Spenderlunge für ihn gibt. Einem Notarzt
braucht niemand zu erklären, was geschieht, wenn dieser Anruf nicht
bald kommt.

10 000 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für
Spenderorgane. Rund jeden dritten Tag ist im vergangenen Jahr ein
Patient gestorben, weil es nicht rechtzeitig eine passende Niere,
Leber, Lunge oder ein Herz gab. 2017 ist die Zahl der Organspender in
Deutschland auf ein historisches Tief gesunken - auf 797. Wolfgang
Wachs weiß, dass damit seine Chancen auf den Anruf weiter sinken. «Es
ist kein schöner Gedanke, dass jemand sterben muss, damit ich
weiterleben kann», sagt er. Doch er will leben. Er will wieder Arzt
sein.

Bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation in Frankfurt am Main
nennt der Medizinische Chef Axel Rahmel die Lage dramatisch. Auch er
ist Arzt, Herzspezialist. Er glaubt nicht daran, dass die
Bundesbürger nach ihrem Tod einfach keine Organe mehr spenden wollen.
Trotz des Skandals 2012, als ans Licht kam, dass
Transplantationsmediziner an einigen Kliniken ihre Patienten auf dem
Papier kränker gemacht hatten als sie waren. Damit rückten sie auf
den Wartelisten weiter nach oben. Dieser Praxis sind lange Riegel
vorgeschoben. Und so heftig wie damals sind die Spenderzahlen auch
nicht mehr auf einmal gesunken. Aber es ging eben stetig weiter
bergab.

Rahmel geht davon aus, dass in Familien heute mehr über Organspende
gesprochen wird als früher. Auch die Zahl der Spenderausweise nehme
zu. Woran liegt es dann? Daran, dass die Bundesbürger einer
Organspende aktiv zustimmen, während ihr zum Beispiel die Spanier
aktiv widersprechen müssen - und mit dieser Regelung in Europa
Spende-Meister sind? Rahmel schüttelt den Kopf. «Entscheidend ist
nicht die gesetzliche Regelung, sondern die Haltung», sagt er. «Wir
brauchen eine gelebte Kultur der Organspende.»

Diese Kultur scheint in manchen der rund 1200 Kliniken, die in
Deutschland zum System Organspende gehören, zu fehlen. Rund 700 haben
sich 2017 nicht ein einziges Mal bei der DSO gemeldet. Schon rein
rechnerisch kann nicht hinkommen, dass dort kein Patient als
potenzieller Spender in Frage kam. Denn die Zahl schwerer
Hirnschädigungen sei trotz der immer moderneren Rettungsmedizin nicht
rapide gesunken, sagt Rahmel.

Für die vor der Organentnahme nötige Hirntod-Diagnostik gibt es
strenge Auflagen. Ganz bewusst soll mit der Organspende auch kein
Geld verdient werden können. Ein hirntoter Patient aber belegt - rein
ökonomisch betrachtet - ein gewinnbringendes Bett auf der
Intensivstation. Das kann ein Spagat für ein Klinikmanagement sein,
das auf die Zahlen schauen muss. Es gibt bei Organspenden
Aufwandsentschädigungen für Kliniken. In Einzelfällen ist das laut
DSO aber zu wenig, um die Kosten zu decken. Das sei auch nicht gerade
eine Motivation für Krankenhäuser, sich stark zu engagieren.

Wolfgang Wachs braucht jetzt im Krankenzimmer eine Extra-Portion
Sauerstoff - zum Sprechen. Bevor er als Notarzt durchstartete,
arbeitete er lange auf einer Berliner Intensivstation. «Ich habe
Organspende damals auch nicht im Blick gehabt», sagt er
selbstkritisch. Er habe auch die zunehmende Ökonomisierung und
Bürokratisierung in den Kliniken kritisch gesehen, ergänzt er. «Da
bin ich weg.» Heute empfindet er die Hetze für Ärzte und
Pflegepersonal als noch schlimmer.

Die fehlende Kultur der Organspende kann für die DSO auch daran
liegen, dass einige Transplantationsbeauftragte keine Zeit für ihren
Job haben. Oder dass es so sehr an Anerkennung für ihre Arbeit fehlt,
dass sie sich nicht voll reinhängen. Dabei geht es nur um einen
Moment - um den Augenblick, bevor Ärzte im Einverständnis mit
Angehörigen beim Hirntod eines Patienten die Maschinen auf der
Intensivstation abstellen. Wenn da einige Menschen mehr an
Organspende dächten - für Rahmel wäre schon viel gewonnen.

In Nordrhein-Westfalen, das zeigt laut DSO eine Studie, haben Ärzte
in weniger als 15 Prozent solcher Fälle in diesem Moment den
Transplantationsbeauftragten überhaupt Bescheid gesagt. Und es gibt
noch eine Tücke. Wer in einer Patientenverfügung auf
intensivmedizinische Therapien verzichtet, kann kein Organspender
sein. Denn Hirntod heißt, nicht mehr allein atmen zu können. Wem
Organspende wichtig ist, der muss Verfügungen so formulieren, dass er
einer zeitlich begrenzten Intensivtherapie zustimmt. Doch wer weiß
das schon?

In der Charité quält Wolfgang Wachs manchmal die Frage, warum es ihn
getroffen hat. Er weiß, dass solche Fragen genauso zermürben können
wie die Tatsache, bei jedem Schritt auf Hilfe angewiesen zu sein. Er
sucht nach Zielen. Im Jahr des Wartens auf eine Spenderlunge hat er,
gestützt auf sein Tagebuch als Notarzt, ein Buch geschrieben, ein
Rettungs-ABC für Kollegen und Laien. Ende Januar soll es erscheinen.
Und er hat jetzt einen Organspendeausweis. Falls er die Charité
lebendig verlässt, will auch er für eine Kultur der Organspende
werben.