Irgendwas mit Aufbruch Von Christiane Jacke, Marco Hadem und Jörg Blank, dpa

Mehr als 24 Stunden verhandeln die angeschlagenen Chefs von CDU, CSU
und SPD über eine neue große Koalition. Dann steht ein Kompromiss,
bei dem jede Seite etwas bekommt und abtreten muss.

Berlin (dpa) - Die Nacht hat Spuren hinterlassen. Angela Merkel,
Horst Seehofer und Martin Schulz sind blass im Gesicht, als sie am
Freitagmittag vor die Presse treten. Die Parteichefs von CDU, CSU und
SPD sehen müde aus, ausgelaugt, abgekämpft. Mehr als 24 Stunden haben
die drei und ihre Leute verhandelt, ob sie es noch mal miteinander
versuchen sollen. Sie wollen. Aber wollen ihre Parteien das auch? Die
Lust auf eine weitere große Koalition hält sich in Grenzen.

Merkel und Seehofer wissen genau, dass nun alles auf Schulz ankommt -
und auf seine Überzeugungskraft. Sie versuchen, ihm Brücken zu bauen.
Die Sondierungen von Union und SPD begannen in der Parteizentrale der
Genossen, und hier enden sie auch. Die SPD hat im Willy-Brandt-Haus
für den Auftritt der drei Chefs extra eine neutrale blaue Wand und
weiße Pulte aufgebaut, ohne jedes Parteilogo.

Schulz bekommt als Hausherr den Vortritt, von den Verhandlungen zu
berichten. Er redet länglich über Zusammenhalt in der Gesellschaft,
über Erneuerung und Vertrauen. Die Kanzlerin sagt dann in der ihr
eigenen Art, es habe einige «Stockungen» in den Gesprächen gegeben.
«Es hat ja auch gedauert.» Aber am Ende sei jeder über seinen
Schatten gesprungen, und die Ergebnisse seien ein «Papier des Gebens
und Nehmens». Sie macht es nüchtern.

Bloß keine Provokationen in Richtung Sozialdemokraten schicken, damit
die ohnehin fragile Annäherung zwischen beiden Seiten nicht gleich
wieder Risse bekommt. Merkel wusste von Anfang an: Sie muss auch
Umbequemem zustimmen - aber sie hatte auch keine andere Wahl, wollte
sie nicht in Kauf nehmen, sich auch die zweiten und womöglich letzte
Chance auf eine vierte Regierungszeit zu verbauen.

Seehofer listet ein paar gemeinsame Vorhaben auf: Soziales wie
Grundrente und Pflegepaket - Dinge, die Genossen mögen. Er gerät ins
Schwärmen über die gemeinsamen Projekte: «Das ist Aufbruch.» Das so
ll
also so etwas wie die Überschrift für vier weitere Jahre GroKo sein?
Die Szenerie vor der blauen Wand sieht dabei wenig nach Aufbruch aus.

Ein Blick zurück, auf Donnerstagmorgen, als die Schlussrunde der
Sondierungen startet: Die ersten Unterhändler schlagen um 8 Uhr bei
der SPD-Zentrale auf, die Chefs um 9.30 Uhr. Stunde um Stunde
diskutieren sie in verschiedenen Formaten. Es hakt, stockt, ruckelt.
Lange bewegt sich kaum etwas - bei Finanzen, Migration, aber auch bei
anderen Themen wie Arbeitsmarkt, Gesundheit, Pflege, Bildung.
Unionsleute laufen um den Block, andere verschwinden, um zu duschen,
sich umzuziehen, vielleicht kurz zu schlafen.

Erst Freitagfrüh kommt Bewegung in die Sache. Um 8.30 Uhr ist dann
das erste Signal da, dass sich die Parteispitzen einig geworden sind.
Ein paar Stunden später segnen die Sondierer-Teams das Ganze ab.

Herausgekommen ist ein 28-seitiges Papier, in dem für jede Partei
Gutes und Schlechtes steckt. Die SPD setzt durch, dass Arbeitnehmer
und Arbeitgeber künftig wieder gleiche Krankenkassenbeiträge zahlen
sollen, muss aber auf ihre Herzensprojekt Bürgerversicherung
verzichten. Auch beim Spitzensteuersatz bringen die Genossen nichts
nach Hause, dafür aber Geld für Bildung und Kommunen. Die Union kann
die «schwarze Null» für sich verbuchen - und der geplante erste
Schritt zum Abbau des Soli ist ein bisschen was für beide.

Im Sondierer-Team der SPD reichen die Ergebnisse fast allen für ein
Ja. Von ihnen enthält sich nur Bundesvize Thorsten Schäfer-Gümbel,
der hessische SPD-Chef. Er hat im Herbst eine Landtagswahl vor sich.
Das steigert den Bedarf an Beinfreiheit. Im Parteivorstand geht es
kontroverser zu. Am Ende stimmen dort sechs Mitglieder gegen
Koalitionsverhandlungen mit der Union.

Einige Parteilinke und allen voran der Nachwuchs sind mit dem
Sondierungsergebnis höchst unzufrieden und rufen zum Widerstand auf.
Juso-Chef Kevin Kühnert will in den nächsten Tagen durch mehrere
Landesverbände touren, um für ein Nein zur GroKo zu werben.

Parallel will Schulz an der Basis etwas Begeisterung für eine
Regierung mit der Union wecken. Dort, wo die Skepsis besonders
ausgeprägt ist: in NRW etwa. Auch in Rheinland-Pfalz, Hessen oder
Bayern sind die Vorbehalte groß. Am Montag und Dienstag will Schulz
zwei große Vortreffen von Parteitagsdelegierten in Dortmund und
Düsseldorf besuchen und dort die Genossen bearbeiten. NRW stellt etwa
ein Viertel aller Delegierten beim Bundesparteitag am Sonntag in
einer Woche in Bonn. Dort fällt die Entscheidung, ob Schulz so
richtig mit Merkel und Seehofer über eine Koalition verhandeln darf.

NRW-SPD-Chef Michael Groschek ist - wie mehrere andere - überraschend
schnell auf Schulz' Kurs eingeschwenkt. Aber hat er genug Einfluss,
den Landesverband einzufangen? Eine Leitfigur wie die damalige
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ist er nicht. Dafür hat
Schulz die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin, Malu Dreyer
(SPD), an seiner Seite. Sie ist der Liebling der Genossen, war lange
Fan einer Minderheitsregierung, hat mitsondiert und nun für
Koalitionsverhandlungen mit der Union gestimmt. Sie könnte einige
SPD-Leute mitreißen.

Es ist ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, dass der SPD-Parteitag
gegen die Empfehlung des Parteivorstands stimmt. Die Genossen wissen
um die Folgen: Sie würden die gesamte SPD-Spitze - alle, die für
Koalitionsverhandlungen gestimmt haben - irreparabel beschädigen.
Beim Parteitag zählt aber nicht nur eine schlichte Mehrheit, sondern
auch, wie groß sie ausfällt. Mit einer hauchdünnen Mehrheit in die
Koalitionsverhandlungen zu starten, wäre für Schulz ein Problem.

Ganz einfach sind die Ergebnisse auch für die CSU nicht. So sehr
Seehofer die Einigung auch lobt, ist klar: Die Resultate liefern der
CSU im wichtigen Landtagswahljahr weniger Prestige, als es bei der
gescheiterten Jamaika-Sondierung der Fall gewesen wäre: Mit bis zu
220 000 Flüchtlingen akzeptiert die CSU nun im Maximalfall zehn
Prozent mehr Zuwanderer im Jahr als lange gefordert und in
schmerzhaften Verhandlungen der CDU abgerungen. Auch eine Rückkehr
zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
ist alles andere als ein CSU-Wunsch.

Ob das Ergebnis der CSU vor der Bayern-Wahl tatsächlich Rückenwind
verschaffen kann, bleibt daher abzuwarten. Anders als vor fünf Jahren
teilt sich der 68-jährige Seehofer inzwischen aber die Verantwortung
mit Markus Söder, der demnächst Ministerpräsident werden soll. Dazu
passt, dass der 51-jährige Franke, der diesmal anders als bei den
Jamaika-Sondierungen mit am Tisch saß, das Ergebnis lobt - etwa wegen
der finanziellen Entlastungen durch den geplanten Soli-Abbau und
einfacherer Abschiebungen.

Merkel und Seehofer wünschen Schulz nicht ganz uneigennützig viel
Glück für den Parteitag. «Das werden noch schwere...», sagt Merkel,

stutzt und sucht nach einem Wort, «...Dinge», schiebt sie nach. Die
Koalitionsverhandlungen würden sicher auch nicht einfacher als die
Sondierungen. «Und dann spüren wir eine Aufgabe.» So lässt sich das

auch formulieren.