Apotheker soll Krebsmedikamente gepanscht haben - Prozessbeginn Von Helge Toben, dpa

Ein Apotheker soll massenhaft Krebsmedikamente gepanscht und so
Millionen erbeutet haben. Viele Krebspatienten fragen sich, ob sie
wirkungslose Medikamente erhalten haben. Der Prozess könnte jetzt
Antworten auf einige Fragen liefern.

Bottrop/Essen (dpa) - Knapp 62 000 Mal soll ein Apotheker
Krebsmedikamente gepanscht und so allein die gesetzlichen
Krankenkassen um 56 Millionen Euro betrogen haben. Die Leidtragenden:
Mehr 1000 Krebspatienten, die der Anklage zufolge Medikamente mit
viel zu wenig oder gar keinem Wirkstoff erhielten. An diesem Montag
beginnt der Prozess gegen den 47 Jahre alter Apotheker aus Bottrop.
Viele Patienten und Hinterbliebene hoffen endlich auf Antworten. Und
darauf, dass die Politik ihre Lehren aus dem Fall zieht.

Als vor knapp einem Jahr die «Alte Apotheke» in Bottrop durchsucht
wurde, fanden die Ermittler 117 Zubereitungen von teuren
Krebsmedikamenten. Viele enthielten gar keinen oder viel zu wenig der
verschriebenen Wirkstoffe. 27 davon soll der Apotheker Peter S. im
Speziallabor seiner Onkologie-Schwerpunktapotheke eigenhändig
hergestellt haben - und dabei nicht zum ersten Mal gepanscht haben,
wie die Staatsanwaltschaft Essen überzeugt ist.

Drei der 27 Zubereitungen sollte eine krebskranke 51-Jährige aus
Bottrop erhalten. In einer war kein Wirkstoff, in den beiden anderen
«viel weniger als vorgeschrieben war», sagt der Anwalt der Frau,
Aykan Akyildiz. Schon 2013 hatte sie eine Chemotherapie erhalten.
Auch damals kamen die Medikamente aus der Bottroper Apotheke. «Sie
fragt sich: «Warum bin ich wieder krank geworden? Würde es mir gut
gehen, wenn ich die richtigen Medikamente bekommen hätte?»», erzähl
t
der Anwalt. Seit die Frau ihre verschriebenen Medikamente auch
wirklich bekomme, gehe es ihr deutlich besser. In dem Prozess tritt
die Frau als Nebenklägerin auf.

Die Ermittler werfen dem zuvor in Bottrop hoch angesehenen
47-Jährigen vor, seit 2012 in insgesamt 61 980 Fällen gegen
Rezepturen und sonstige Vorschriften verstoßen zu haben. Mit den
Krankenkassen soll er trotz geringerer Dosierung die verschriebenen
Mengen abgerechnet haben. Allein den gesetzlichen Krankenkassen soll
dabei ein Schaden von rund 56 Millionen Euro entstanden sein.

Schwerpunktapotheken wie die in Bottrop gibt es in Deutschland rund
300. Sie verfügen über sterile Labore und versorgen Patienten
individuell mit krebshemmenden Medikamenten.

Die Dimensionen des Bottroper Falles reichen weit über das Ruhrgebiet
hinaus. Betroffen sind Patienten von 37 Ärzten, Praxen und Kliniken
in sechs Bundesländern, die meisten in Nordrhein-Westfalen.
Lieferungen gingen aber auch an jeweils eine Klinik oder Praxis in
Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Sachsen und im
Saarland.

«Wir gehen davon aus, dass die Zahl der betroffenen Patienten im
unteren vierstelligen Bereich liegt», sagt Oberstaatsanwältin Anette
Milk und betont, dass sich diese Zahl auf den Zeitraum ab Januar 2012
bezieht. Nach Recherchen des ARD-Magazins Panorama und des
Recherchezentrums «Correctiv» soll der Apotheker seit 2005 insgesamt
mehr als 7300 Menschen mit Wirkstoffen beliefert haben, für die die
Stadt Bottrop eine Unterdosierung in den Infusionen annimmt.

Die Ermittlungen ins Rollen gebracht hatten zwei Mitarbeiter der
Apotheke. Sie teilten der Staatsanwaltschaft ihre Beobachtungen mit.
Am 29. November 2016 gab es dann eine Razzia, bei der der Apotheker
festgenommen und sein Speziallabor geschlossen wurde.

Über das Motiv des Mannes gibt es nur Spekulationen. «Wir kennen das
Motiv nicht», sagt Milk. Peter S. habe dazu keine Angaben gemacht.

Neben den tausendfachen schweren Verstößen gegen das
Arzneimittelgesetz sowie gewerbsmäßigem Abrechnungsbetrug wirft die
Anklage dem Apotheker auch versuchte Körperverletzung vor. Sie
beschränkt sich dabei auf die sichergestellten 27 Zubereitungen.

Auch zivilrechtlich soll Peter S. belangt werden. Die Rechtsanwältin
Sabrina Diehl aus Marl hat bereits erste Klagen auf Schadenersatz und
Schmerzensgeld vorbereitet. Alle ihre Mandanten, Patienten und
Angehörige seien «fassungslos und wütend auf den Angeklagten und das

System». Kontrollen solcher Apotheken funktionierten nicht oder seien
nicht vorhanden. «Das Sicherungssystem hat komplett versagt», sagt
die Fachanwältin für Medizinrecht.

Auch sie berichtet von Patienten, bei denen die vermeintliche
Therapie wirkungslos blieb: So seien sowohl Nebenwirkungen wie
Haarausfall oder Übelkeit ausgeblieben als auch positive Wirkungen,
sagt die 36-Jährige. Als Reaktion auf den Skandal hat
Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann
(CDU) Verbesserungen bei der Kontrolle von Apotheken angekündigt.
Viele Betroffene finden das Vorgehen der Politik viel zu zögerlich.

Der Angeklagte hat sich bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert. Am
Montag hat er nach der Verlesung der Anklage erneut Gelegenheit dazu.
Die ersten Zeugen will die Strafkammer am Dienstag hören. Wie lange
der Prozess dauern wird, ist noch offen. Bis Mitte Januar hat das
Gericht bereits Termine festgelegt.

Sollte es zu einer Verurteilung kommen, sieht das Arzneimittelgesetz
bei schweren Verstößen Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vor.
Über das Vermögen des Apothekers hat die Staatsanwaltschaft bereits
sogenannten Arrest verhängt. Auch die Verhängung eines Berufsverbots
ist laut Gericht beantragt.

Die Apotheke in Bottrop ist weiterhin in Betrieb. Der Angeklagte hat
sie nach Angaben der Stadt seiner Mutter übertragen, von der er sie
vor einigen Jahren übernommen hatte. Individuelle Krebsmedikamente
werden dort nicht mehr hergestellt.