175 000 Mal mehr Pflege - Reform-Erfolg oder Wahlkampfhilfe? Von Basil Wegener, dpa

Deutlich mehr Menschen bekommen in diesem Jahr Pflegeleistungen. Das
ist kein Zufall, trat doch erst eine große Pflegereform in Kraft.
Doch offen bleibt: Hilft die Reform den Betroffenen wirklich
ausreichend?

Berlin (dpa) - Es klingt wie ein enormer Erfolg von
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU): Deutlich mehr Menschen
bekommen nach dem Start seiner Reform zusätzlich Pflegeleistungen.
Doch die Zahlen der Krankenkassen rufen Zweifel hervor.

Wie ist der Stand bei den Leistungsempfängern der Pflegeversicherung?

Von Januar bis Juli haben 175 000 mehr Menschen erstmals
Pflegeleistungen bekommen als im gleichen Zeitraum 2016. Insgesamt
waren es in den ersten sechs Monaten diesen Jahres 432 000
Versicherte, die von den Gutachtern des Medizinischen Dienstes der
Krankenkassen erstmals begutachtet wurden und die einen der fünf
Pflegegrade bekamen.

Was haben die Zahlen mit der jüngsten Pflegereform zu tun?

Sie deuten darauf hin, dass viele Betroffene durch die Reform
Pflegeleistungen bekommen - und sonst leer ausgegangen wären. Vor
allem Demenzkranke profitieren davon, dass es statt wie früher drei
Pflegestufen nun fünf Pflegegrade gibt. Auch Vorlesen, Hilfe beim
Treppensteigen oder Unterstützung in Fällen von aggressivem Verhalten
oder nächtlichem Weglaufen können seither verstärkt über die
Pflegeversicherung organisiert werden.

Was sagen die Zahlen nicht?

Wie viele Menschen ohne Reform in diesem Jahr zusätzlich als
pflegebedürftig anerkannt worden wären, bleibt unklar. Unbekannt
bleibt auch, wie viele lediglich in Pflegegrad 1 und 2 eingestuft
werden - und wie viele in Pflegegrad 3 bis 5 und somit als schwer
oder schwerst beeinträchtigt anerkannt sind. Der Medizinische Dienst
des Spitzenverbands der Krankenkassen in Essen, von dem die Daten
kommen, teilt mit, auf die Schnelle könnten die Zahlen nicht weiter
aufgeschlüsselt werden.

Gibt es Kritik an den Zahlen?

Ja. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz vermutet dahinter
Wahlkampfhilfe für Minister Gröhe. Interessant sei vor allem, ob es
einen großen Zuwachs in Pflegegrad 3 bis 5 gebe, sagt Vorstand Eugen
Brysch. «Die Krankenkassen setzen sich dem Verdacht aus, drei Tage
vor der Wahl eine Erfolgsmeldung für das Gesundheitsministerium zu
verbreiten.» Dass die Kassen die Zahlen zunächst nicht aufschlüsseln

könnten, wertet Brysch als «unglaubwürdig».

Wie entwickelten sich die Pflege-Zahlen in den vergangenen Jahren?

Die Zahl der Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung
bekommen, steigt seit Jahren kontinuierlich. Vor zehn Jahren waren es
laut Gesundheitsministerium noch rund 2,03 Millionen, fünf Jahre
später dann bereits 2,4 Millionen. Bis Ende 2016 stieg die Zahl
binnen einen Jahres um 84 000 auf 2,75 Millionen.

Spielt die Pflege im Wahlkampf eine Rolle?

Der Bereich rückte in den vergangenen Tagen in den Fokus. Zunächst
die Krankenpflege, als ein junger Pflege-Azubi die Kanzlerin in der
ARD-«Wahlarena» in die Bredouille brachte mit der Frage: «Was wollen

Sie konkret gegen den Pflegenotstand tun?» Dann als
SPD-Herausforderer Martin Schulz versprach: «Mit mir als
Bundeskanzler wird es einen Neustart in der Pflege geben.» Fast jeden
Tag greifen die Wahlkämpfer das Thema auf - nun kündigte Merkel an,
sie wolle eine gleiche Bezahlung von Pflegekräften in Ost und West.

Wie werten die Kassen die neuen Zahlen - und was fordern sie?

Dass mehr Menschen erstmals Leistsungen bekommen, begrüßen sie als
überfällig. Das entlaste Pflegebedürftige und Angehörige, sagt Gern
ot
Kiefer vom Vorstand des Spitzenverbands der gesetzlichen
Pflegekassen. Einer neuen Regierungskoalition schreibt er ins
Stammbuch: «Das herausragende pflegerische Thema ist nun, dem bereits
vorhandenen und nach allen Prognosen sich verschärfenden Mangel an
Pflegefachkräften entgegenzuwirken.» Nötig sei eine gemeinsame
Anstrengung. Die Vergütung müsse angepasst, die Ausbildungszahlen
müssten erhöht, für die Arbeitszeit müssten differenzierte Modelle

geschaffen werden. «Dafür sollte die neue Bundesregierung alle
relevanten Akteure schnell an einen Tisch holen», so Kiefer.