Zu wenig Zukunft - «Anne Will» zum polarisierenden Wahlkampf Von Michael Haas, dpa

Eine Woche vor der Wahl wagt sich die Talkshow an eine Analyse der
vergangenen Wochen. Fazit der Runde: Unterschiede gäbe es schon, doch
die kommen gegen die vielen Emotionen nicht an.

Berlin (dpa) - Einigkeit beim TV-Duell, Langeweile-Vorwürfe und
eindeutige Umfragen, gleichzeitig «Hau ab!» und «Merkel muss
weg!»-Rufe auf den Marktplätzen der Republik: Gemischte Stimmungen
prägen den Bundestagswahlkampf. Auch eine Woche vor der Wahl sind
viele Bürger noch unentschlossen. Für die Redaktion von «Anne Will»

ein guter Grund, eine ganz grundsätzliche Frage zu
stellen: «Verstehen die Politiker ihre Wähler noch?». Einig ist sic
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die Runde am Sonntagabend dann vor allem in einem: Wichtige
Zukunftsthemen kamen in den vergangenen Wochen zu kurz. «Es hat im
Augenblick keiner Lust, die unbequemen Fässer aufzumachen in der
Politik», sagt beispielsweise die Schriftstellerin Thea Dorn.

Der langjährige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hätte sich vor
allem größere Diskussionen über die Zukunft Europas und Chancen für

die junge Generation gewünscht. Diesen Vorwurf macht er allen
Parteien, betont gleichzeitig aber, dass Themensetzung und
Diskussionen im Wahlkampf Aufgabe der Herausforderer seien. Doch die
tun sich damit schwer - gerade, wenn sie wie die SPD in den
vergangenen Jahren selbst an der Regierung beteiligt waren.

Dabei gibt es die Unterschiede ja, wie die Redaktion in einem Beitrag
an den Beispielen Bildung und Krankenversicherung zeigt und auch
Gesine Schwan mehrmals betont. Die Politikwissenschaftlerin und
Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission sieht ihre Partei als
Vertreterin der sozialen Gerechtigkeit, die CDU stehe hingegen für
Wettbewerbsfähigkeit. Doch die Unterschiede und Vorstellungen
deutlich zu machen, sei schwer, sagt Schwan. «Eine Partei, die etwas
verändern will, hat sehr viel mehr Beweislast.»

Hinzu kommt laut Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine
schwierige gesellschaftliche Entwicklung. Dass viele Menschen noch
unentschlossen seien, sei das Resultat eines Wahlkampfes, der mit
Stimmungen geführt worden sei. Er erinnert an die Diskussionen um
Hacker-Angriffe auf den Bundestag, den Hype um Martin Schulz und die
inzwischen vorherrschende Stimmung, dass die Wahl bereits entschieden
sei. «Die Medien erzeugen einen Beobachtungs- und Inszenierungsdruck,
der längst diskursfeindlich geworden ist», sagt der Professor von der
Uni Tübingen und kritisiert ein «visionsfeindliches
Kommunikationsklima».

Dorn sieht das ähnlich. Oft genug werde aus Ideen und
Meinungsverschiedenheiten kein leidenschaftlicher demokratischer
Dialog, sondern Hetze, sagt sie. Und so rücken auch die Auftritte von
Angela Merkel auf ostdeutschen Marktplätzen noch einmal in den Fokus:
Mehrfach protestierten dort in den vergangenen Wochen rechte Gruppen
gegen die Kanzlerin - Pfiffe, Gebrüll und fliegende Tomaten
inklusive. 

«Der Osten unterscheidet sich nicht in der Substanz vom Westen, aber
in der Addition verschiedener gesammelter Probleme», sagt
der bekannte Bürgerrechtler und ehemalige Leiter der Sächsischen
Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter. Er war kürzlich

auf einer Wahlkampfveranstaltung Merkels und vermisste auch dort
Aussagen zu den wichtigen Themen des Landes. An der Kanzlerin allein
will Medienwissenschaftler Pörksen die Themenarmut im Wahlkampf aber
nicht festmachen. «Wir sollten das nicht personalisieren.» Es gebe

eine Bringschuld der Politik, Themen so zuzuspitzen, dass sie im
medialen Diskurs stattfänd

Was aber tun, um von den vielen Stimmungen und Emotionen wieder mehr
zur Diskussion politischer Themen zu gelangen? Richter plädiert für
mehr Minderheitsregierungen ohne feste Koalitionsmehrheit -
Diskussionen über Sachthemen wären dann zwingend nötig.