Seelenverwandte: Lebenslange Freundschaft ist wie ein Geschenk Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Freundschaft sei eine Seele in zwei Körpern, schrieb Aristoteles. In
Deutschland ist eine Herzensfreundschaft ohne Tabuthemen jedoch ein
relativ junges Phänomen. Frauen haben dabei die Nase vorn.

Berlin (dpa) - Manchmal fragt sich Stefanie Wally, ob sie so mutig
gewesen wäre wie ihre Freundin in Ostdeutschland. Als sie Teenager
waren, stand Anke Behrendt 1988 vor einer schweren Entscheidung. Eine
SED-Parteisekretärin ließ sie wissen, dass sie ihren Traumjob
bekommen könne. Aber nur, wenn sie ihre Verbindung zu Freundin
Stefanie in Westdeutschland abbricht. Behrendt entschied sich gegen
die Ausbildung. «Wer verzichtet denn wegen einer Brieffreundin auf
seine berufliche Zukunft?», sagt Stefanie Wally noch heute.

Für sie war die Entscheidung ihrer Freundin damals ein
«Riesengeschenk». Die ungewöhnliche und tiefe Freundschaft ist
inzwischen zu einem sehr persönlichen Stück deutsch-deutscher
Geschichte geworden. Sie begann, als Stefanie 1977 auf einem
Volksfest in Dossenheim nahe Heidelberg einen Luftballon mit einer
Postkarte steigen ließ. Darauf stand: «Bin sechs Jahre alt und habe
zur Zeit das Bein gebrochen. Würde mich freuen, wenn ich Antwort
bekäme.»

Der Wind trieb den gelben Ballon vor 40 Jahren über die innerdeutsche
Grenze hinweg. Drei Tage später ging ihm nahe Meißen die Luft aus.
Stefanie erhielt Ankes Antwort in Kinderschönschrift: «Mein Opa fand
den Luftballon heute auf einem Feld bei unserem Dorf. Ich wohne in
Dennschütz bei Lommatzsch. Ich bin sechs Jahre alt und gehe in die
erste Klasse. Für Dein gebrochenes Bein wünsche ich Dir gute
Besserung. Über einen Brief von Dir würde ich mich sehr freuen.» Das

war der Beginn ihrer Verbindung, von der Stefanie Wally heute sagt:
«Die hält lebenslang.»

Für Psychotherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger liegen die beiden
Frauen, die sich wie Schwestern fühlen, im Trend. «Wir leben in einer
Blütezeit der Freundschaft», sagt er der Deutschen Presse-Agentur vor

dem Internationalen Tag der Freundschaft am 30. Juli. Krüger
definiert Freundschaften als Sympathiebeziehungen, in denen Menschen
offen und vertrauensvoll über sich selbst reden können. Der Forscher
schätzt, dass das in Deutschland erst seit rund 40 Jahren in dieser
Intensität möglich ist.

«Wir leben in einer Zeit, in der wir in der Lage sind, über uns
selbst nachzudenken. Das war unseren Eltern und Großeltern in den
Kriegs- und Nachkriegszeiten kaum möglich, sie waren mit Überleben
und Wiederaufbau beschäftigt.» Auch dass die Bundesbürger heute viel

offener als früher miteinander reden könnten, habe Freundschaften
einen enormen Bedeutungszuwachs gebracht. Ab wann ist ein Freund ein
Freund? «Wem würde ich erzählen, wie meine Mutter war, dass ich
fremdgegangen bin oder wegen einer privaten Krise eine Therapie
gemacht habe?», fragt Krüger zurück.

Für Stefanie Wally und Anke Behrendt gibt es keine Tabuthemen. Aus
Mädchenbriefen über die Schule und Postkarten aus dem Urlaub wurde
ein tagebuchartiger Austausch junger Frauen über ihren Alltag in
einer westdeutschen Einfamilienhaussiedlung und dem ländlichen
Ostdeutschland, über die erste Liebe - und immer häufiger auch über
Politik.

Elf Jahre lang haben sich die beiden Mädchen geschrieben, bis sie
sich mit 17 das erste Mal in Ostberlin treffen konnten. Das war 1988.
Danach wurde die Freundschaft noch inniger. «Wir haben bald
Fluchtpläne für Anke geschmiedet. Ich dachte an einen doppelten Boden
im Auto bei Ferien in Ungarn», erzählt Wally. Denn Anke Behrendt
hatte die Wahl zwischen Ausbildungsplatz oder Freundschaft das erste
Mal in ihrem Leben in der DDR an eine harte Grenze gebracht. Sie
blieb zutiefst empört.

Die Geschichte war schneller als die Freundinnen. Rund ein Jahr nach
ihrem ersten Treffen fiel die Mauer. Stefanie Wally studierte
Geschichte, Politik und Germanistik - im Westen. Anke Behrendt blieb
im Osten und studierte in einer neuen Zeit, was ihrem Traum am
nächsten kam: Betriebswirtschaft.

Auch im Zeitalter von Internet und Emails halten die Freundinnen am
Briefschrieben fest - und an gegenseitigen Besuchen in Leipzig und
Karlsruhe. «Jedes Jahr feiern wir den Mauerfall», sagt Stefanie
Wally. 25 Jahre nach dem 9. November 1989 schrieb sie das Buch «Akte
Luftballon» über die gemeinsame Geschichte. Im neuen Berliner
Miniaturmuseum «LittleBigCity» gibt es zwei kleine Figuren der
Mädchen mit dem Luftballon. «Im Kopf sind wir all die Jahre, in denen
wir Freud und Leid miteinander teilten, einen gemeinsamen Weg
gegangen», bilanziert Freundin Anke Behrendt.

Dass eine Frauenfreundschaft über Jahrzehnte hält, hat für Forscher
Wolfgang Krüger nicht allein mit Glück zu tun. Frauen investierten
viel in Freundschaften, Zeit und Fantasie, sagt er. «Über zwei
Drittel aller Frauen haben eine intensive Freundschaft, in der sie
über alles reden können.» Bei Männern sei es nur ein Drittel. «M
änner
haben oft Kumpelbeziehungen, wo sie sich über sachliche Dinge wie
Börsenkurse und Autos austauschen.» Wenn Männer tiefe Freundschaften

pflegten, dann meist zu Frauen.

«Wir wissen, dass innerhalb von sieben Jahren die Hälfte aller
Durchschnittsfreundschaften scheitert», sagt Krüger. «Die so
genannten Herzensfreundschaften aber, in denen wir uns alles
erzählen, haben eine Dauer von über 30 Jahren. Sie halten oft
lebenslang.»

Daran hat auch Anke Behrendt keinen Zweifel. «Wir teilen das tiefe
Verständnis, dass wir immer füreinander da sein werden», sagt sie.
Einen Schritt haben die Freundinnen dabei noch vor sich. Anke
Behrendt hat nach langem Überlegen ihre Stasi-Akte angefordert. Die
Freundinnen vermuten, dass die Staatssicherheit bis 1989 ein treuer
Mitleser ihrer Briefe war. Für dieses düstere Kapitel gibt es für
beide nur einen Weg: Sie wollen die Akte zusammen lesen - in Berlin.