Kardinal Müller: Der Papst ist auch nur ein Mensch Interview: Annette Reuther und Lena Klimkeit, dpa

Nach dem überraschenden Verlust eines der wichtigsten Ämter im
Vatikan spricht der deutsche Kardinal Müller über seine Sicht der
Dinge. Ein Besuch bei einem, der sich noch nicht am Ende seiner
Karriere sieht.

Rom (dpa) - Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat gerade seinen Posten
als Leiter der mächtigen Glaubenskongregation im Vatikan verloren. In
einem dpa-Interview spricht der 69-jährige ehemalige Regensburger
Bischof über seine Enttäuschung, über Schmeichler im Vatikan, über

Missbrauch und über die Ehe für alle. dpa fasst das Gespräch, das am

10. Juli geführt wurde, in Auszügen zusammen:

Frage: Wie haben Sie davon erfahren, dass Papst Franziskus ihre
Amtszeit nicht verlängert?

Antwort: Es war eine normale Arbeitsaudienz, in der die Vorlagen aus
den drei Abteilungen der Kongregation besprochen wurden. Und am
Schluss wurde mir mitgeteilt, dass nach Ablauf der fünf Jahre, für
die ich zum Präfekten bestellt worden war, mein bisheriger
Stellvertreter mein Nachfolger sein wird.

Frage: Kennen Sie die Gründe für die Entscheidung?

Antwort: Von interessierten Seiten wurden angebliche Spannungen ins
Gerede gebracht. Der Papst hat mir jedoch immer wieder versichert,
dass er diesen Gerüchten keinen Glauben schenkt und mir voll
vertraut. Es ist das Recht des Papstes, die hohen Kurienämter nach
seinem Gutdünken zu besetzen.

Frage: Sie selbst wurden also nicht über die Gründe informiert?

Antwort: Ich weiß keinen Grund. Manche Zeitungen haben geschrieben,
es sei die Softlinie, was sexuellen Missbrauch von Minderjährigen
durch Kleriker angeht. Die Kongregation hat jedoch trotz mancher
Einmischungsversuche immer die Nulltoleranz-Linie vertreten, wie sie
die letzten drei Päpste gemäß den Strafbestimmungen des
Kirchenrechtes vorgegeben haben. Der Papst hat auf meinen Vorschlag
hin Kardinal O'Malley, den Vorsitzenden der Päpstlichen Kommission
für den Schutz Minderjähriger, als Mitglied in der Vollversammlung
der Glaubenskongregation berufen.

Frage: Wie haben Sie die Entscheidung empfunden, waren Sie
enttäuscht?

Antwort: Was das bedeutet, kann sich jeder denken. Ich habe auf eine
pastoral sehr gut dastehende Diözese verzichtet. Ich bin von Papst
Benedikt nur für dieses Amt nach Rom berufen worden. Davon kann man
normalerweise ausgehen, dass das bis zum 75. Lebensjahr reicht. Aber
es ist jetzt so verfügt worden. Für mich bricht nicht die Welt
zusammen. Ich kann weiterhin vieles tun für die Kirche. Die Aufgabe
der Kongregation, den katholischen Glauben in der ganzen Welt zu
fördern und zu verteidigen, gilt für jeden Bischof und besonders für

die Kardinäle der römischen Kirche.

(Müller spricht an dieser Stelle auch über die Entlassung von
drei Mitarbeitern der Glaubenskongregation)

Insgesamt muss man hier im Zuge der Kurienreform wirklich mal
überlegen, wie man umgeht mit unseren Mitarbeitern der mittleren
Ebene, vor allem mit den Priestern, was auch den Kündigungsschutz
betrifft. Das ist sicher nicht nur ein
Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis, aber deshalb gilt die
Fürsorgepflicht umso mehr. Wir müssen hier Vorbild sein. Für die
altgedienten Kurienmitarbeiter müsste man zum Beispiel ein
Seniorenheim parat haben. Die soziale Absicherung und die Alters-,
Kranken- und Pflegeversicherung sind ausbaufähig.

Frage: Muss das Papst Franziskus durchsetzen?

Antwort: Papst Franziskus ist sozusagen nur an der obersten Stelle,
aber es gibt auch noch andere Ebenen der Verantwortlichkeit.
Brüderlichkeit ist mehr als eine schöne Floskel ohne praktische
Konsequenzen. Ein Betriebsklima des Respekts und der Anerkennung
schadet gewiss nicht der Effizienz und Zügigkeit der Arbeit.

Frage: Kommt für Sie eine Rückkehr nach Deutschland in Frage?

Antwort: Was soll ich jetzt in Deutschland, da habe ich alles
aufgegeben für den Dienst an der Weltkirche in Rom. Ich habe in Rom
meine Titelkirche und das ist für jetzt mein Standort.

Frage: Einerseits wurde als Grund der Umgang mit Missbrauch genannt,
aber andererseits auch, dass Sie in Ihrer Amtszeit als konservativer
Gegner von Franziskus beschrieben wurden.

Antwort: Ich glaube, ich war in meinem Leben nie konservativ oder ein
Hardliner. Das geistige und religiöse Leben in konservativ und
progressiv einzuteilen, ist ein Armutszeugnis und verrät nur die
Aggression derer, die lieber andere diskriminieren, statt sich mit
ihnen argumentativ auseinanderzusetzen. Das sind politische und
ideologische Begriffe, die dann in die Kirche hineingetragen werden
und ihre Natur verfälschen und ihre Sendung behindern.
Glaubenswahrheiten sind wahr oder falsch und das sittliche Handeln
des Menschen ist gut oder böse, aber nicht konservativ oder
progressiv. Aber die Kirche ist eben kein politischer Verband, sie
ist eine Gemeinschaft des Heils, von Jesus Christus gegründet als
Sakrament, um die Menschen zum innersten Sinn ihres Lebens in Gott zu
führen. Von daher ist das grundfalsch und auch schädlich für die
Kirche, wenn alles das, was in der Kirche geschieht, mit politischen
und ideologischen Kategorien beurteilt wird. Wir als Geistliche
sollen uns nicht als Hilfspolitiker betätigen.

Frage: Es gibt innerhalb der Kirche strittige Themen wie «Amoris
Laetitia», das Schreiben des Papstes zu Liebe und Familie,
insbesondere über den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen.

Antwort: Ich muss sehr bedauern, dass es in der Rezeption von «Amoris
Laetitia» so gegensätzliche und dissonante Stimmen gibt, die die
Einheit der Kirche bedrohen und die Wahrheit des Evangeliums
verdunkeln.

Frage: Erfordert die Realität nicht manchmal mehr Pragmatismus als
das, was die Kirche vorschreibt?

Antwort: Gott ist das Maß der Realität. Und nicht einfach das, was
faktisch ist. Was tatsächlich besteht, ist nicht automatisch gut.
Christus ist gekommen, um uns von Selbstbezogenheit, Sünde und Tod zu
befreien und eine neue Welt zu schaffen. Wenn Kinder allein gelassen
werden von ihren Eltern, dann ist das eine Tatsache, aber eben eine
traurige Tatsache, die Schmerz und Leiden bereitet. Die
Glaubensrealität ist eben keine Theorie, sondern das innere Maß, und
an dieses innere Maß müssen wir uns halten, weil das für uns gut ist.

Leider gibt es die Situation, dass manche Eltern ihre Kinder grob
vernachlässigen oder Ehepartner die Liebe verraten, die sie sich
geschworen haben und wie viel Leid tun sich die Menschen überhaupt
an. Gewiss müssen dann auch pragmatische Notlösungen gefunden werden,
um Schlimmeres zu vermeiden. Aber deshalb kann man nicht die
Unauflöslichkeit der Ehe, das Gebot der Nächstenliebe, die
Fürsorgepflicht der Eltern für ihre Kinder und umgekehrt
relativieren, sondern man muss in der Seelsorge und Verkündigung
alles tun, damit sie von den Gläubigen verstanden und im Leben
wirksam werden können.

Frage: Aber manchmal ist eine Scheidung eine bessere Lösung.

Antwort: Ja, eine Trennung vielleicht, aber eben nicht eine zweite
kirchliche Ehe, solange der legitime Ehepartner noch lebt. Das ist
eben nicht möglich, wenn wir die Worte Jesu zugrunde legen. Jesus
sagt, dass wir ihm nachfolgen sollen. Nicht er muss uns nachfolgen
und alles so anerkennen, wie wir es uns eingerichtet haben. Der
breite Weg ist der bequeme Weg, aber es gibt auch den schmalen Weg
und dem sollen wir folgen. Der christliche Glaube ist nicht nur ein
Sinnangebot und die Gebote Gottes sind nicht schöne Ideale, denen
keiner gerecht werden kann. Christwerden durch Glaube und Taufe
bedeutet auch Änderung des Lebens, gleichförmig werden mit Jesus
Christus in seinem Leiden, seinem Kreuz und seiner Auferstehung. Und
wenn ein Mann seiner Frau, die er liebt, das Ja-Wort gibt, umfasst
das eben auch das ganze Leben in seiner Leiblichkeit und Geschichte.
Das Ja-Wort ist nicht funktional gemeint, solange wir etwas
voneinander haben.

Frage: Es gibt ja auch Situationen, in denen Männer ihre Frauen
schlagen. Da sollte es doch möglich sein, sich von diesem Mann zu
trennen ohne eine Sünde zu begehen.

Antwort: Es gibt schreckliche Situationen, die menschlich gesehen
ausweglos sind. Es könnte und sollte auch sein, dass der Mann, der
seine Frau seelisch und körperlich traktiert, auf einmal versteht,
wie furchtbar er gegen die Liebe sündigt und versucht das wieder gut
zu machen und sein Verhalten zu ändern. Der Mensch hat auch die
Fähigkeit mithilfe der Gnade, seine negativen Eigenschaften und
Verhaltensweisen zu überwinden. Das muss in der Ehevorbereitung
deutlich gemacht werden, dass das nicht nur so ein bisschen frommer
Schein ist und ein schöner Orgelklang mit ausgestreuten Blümchen,
sondern dass die Hochzeit ein herausforderndes Ereignis ist, dass ich
zu einem anderen Menschen wirklich Du sage, nicht nur ins Gesicht
lächle, sondern seine ganze Person umfasse und dass ich sage: «Ich
binde mich ganz an dich, wir bilden jetzt eine
Schicksalsgemeinschaft.

Frage: In Deutschland wurde gerade die Ehe für alle vom Bundestag
beschlossen. Was ist ihre Meinung dazu?

Antwort: Ehe für alle ist ein Etikettenschwindel. Es gibt die
spezifische Verbindung von Mann und Frau, die man die Ehe nennt. ...
Eine Begriffsverwirrung entsteht, wenn man zwei verschiedene
Sachverhalte mit dem gleichen Namen bezeichnet. Nicht nur im
christlichen Bereich, sondern auch in anderen Religionen und Kulturen
nennt man diese spezifische Form der lebenslangen Bindung von Mann
und Frau mit der Polarität der Geschlechter und der Offenheit auf
Kinder hin die Ehe, aus der die Familie entsteht. Und wenn eines der
Charakteristika nicht gegeben ist, dann kann man das nicht Ehe
nennen. Leibliche Brüder und Schwestern bleiben sich auch ein Leben
lang treu, und die Eltern haben zu ihren Kindern auch eine
lebenslange Bindung, aber das kann ich doch nicht Ehe nennen. Und
Personen gleichen Geschlechts können keine Ehe eingehen, weil dem
Begriff nach die Beziehung von Mann und Frau für die Ehe wesentlich
ist.

Frage: Was bedeutet es, dass es unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel
dann zu so einer Gesetzgebung kommt. Weicht das C für Christlich in
der CDU auf?

Antwort: Es ist die Frage, ob Politiker oder die Politik über
ethische Grundfragen eine Abstimmung machen können. Ich glaube, dass
sie da ihre Kompetenz überschreiten. Genauso wenig wie man die
Menschenrechte politisch zur Disposition stellen kann, weil sie in
die Natur des Menschen eingezeichnet sind, so wenig kann die Politik
eine grundsätzliche Aussage machen über das, was die Ehe ist. Man
kann darüber diskutieren, welche Handlungen unter Strafe gestellt
werden oder auch nicht. Das ist eine politische oder eine rechtliche
Frage. Aber die geistig-leibliche und sittliche Natur des Menschen
können Menschen nicht definieren oder umdefinieren. Der Staat hat
pragmatisch das Gemeinschaftsleben zu regulieren, aber nicht normativ
in das sittliche Gewissen oder den religiösen Glauben der Menschen
einzugreifen.»

Frage: Um nochmal auf ihre Beziehung zu Papst Franziskus
zurückzukommen, wie würden Sie diese beschreiben?

Antwort: Die war von Anfang an, glaube ich, gut, er hat immer wieder
betont, dass er volles Vertrauen hat zu mir. Besonders hat ihn mein
langjähriges Engagement in Lateinamerika gefreut. Und gerne hat er zu
einem Buch von Gustavo Gutiérrez und mir mit dem Thema «Arme Kirche
für die Armen» ein Vorwort geschrieben. Er war auch sehr dankbar,
dass ich für die Seligsprechung von Oscar Romero letzte Hürden aus
dem Weg geräumt habe. (...) Der Papst ist natürlich nicht nur allein.
Wir sehen das manchmal so ein bisschen durch die Medien
herausgestellt, dass der Papst so eine isolierte Figur ist, der
erscheint am Fenster, und jeder denkt: Unten ist das Volk, er ist
oben allein. Aber der Papst ist zusammen mit den Bischöfen und
Priestern der gute Hirte, der inmitten des Volkes Gottes, mit der
pilgernden Kirche den Weg geht bis zur himmlischen Heimat. Da sollte
auch kein Personenkult entstehen und ein
Papst-zum-Anfassen-Tourismus. Das ist im Zeitalter der Massenmedien
etwas gefährlich, dass die Leute jetzt nur dem Papst zujubeln oder
dass man aus Sensationslust nach Rom fährt. Um dann sagen zu können,
ich habe den Papst gesehen in der ersten Reihe ganz nah bei ihm, und
das ist der Inhalt des Rom-Erlebnisses. Nach Rom geht man eigentlich,
weil man zu den Gräben der Apostel Petrus und Paulus pilgert und dort
um ihre Fürbitte für die Kirche nachsucht und sich an ihrem
apostolischen Leben und Wirken ein Beispiel nimmt.

Frage: Fördert Franziskus diesen Personenkult mehr als Benedikt?

Antwort: Jeder ist auf seine Weise Mensch und Christ: Benedikt eine
feine, ziselierte, deutsche Gelehrtengestalt, Franziskus mehr so der
volkstümliche Seelsorger, den die Medien lieben. Aber das ist seit
jeher bei jedem Papst verschieden. Keiner soll seine persönliche
Lebensgeschichte verbergen, das geht gar nicht. Keiner braucht in die
Fußstapfen des anderen hineinzutreten, das will der liebe Gott gar
nicht. Es hat ihm ja nicht genügt, einen Menschen zu schaffen,
sondern viele Millionen und jede einzelne Persönlichkeit hat ihr
volles, absolutes Recht. Es ist auch wichtig, dass man niemanden auf
eine einzelne seiner herausragenden Eigenschaften reduziert und somit
zu einer Schablone macht. Jeder Mensch ist ein Geheimnis ist, das nur
Gott allein ausloten kann. Deshalb sollen wir im Beurteilen anderer
sehr zurückhaltend sein und am besten gleich Gott allein das Urteil
überlassen. Ob Bischof oder Papst - man muss sich immer überlegen, ob
man instrumentalisiert wird für bestimmte Interessen. Gegen die
Karrieristen, die dann durch Schmeicheleien versuchen, irgendwelche
Pöstchen oder mediale Vorteile zu bekommen, hat Papst Franziskus oft
gesprochen. In jedem dieser hohen Ämter muss man sich immer
selbstkritisch fragen: Diene ich dem Gemeinwohl und wie kann ich
diesen menschlichen Grundversuchungen entgehen. Jeder möchte
natürlich immer Worte hören, die dem Ego gut tun. Ein wahrer Freund
wagt auch ein kritisches Wort.

Frage: Sie kennen den Vatikan ja so gut wie wenige andere ...

Antwort: Ich bin nicht in Rom aufgewachsen, ich bin kein Kurialer,
darauf lege ich großen Wert. Ich bin ein Bischof, der von außen
reingekommen ist. Vielleicht wird man als Nordländer immer ein
Fremdkörper im System sein, was dadurch auch zum Ausdruck kam, dass
mir oft gesagt wird: Typisch deutscher Theologieprofessor, der nicht
versteht, dass man auch mal nach Bedarf 2 + 2 =5 sein lassen kann. Es
gab am Anfang solche Bemerkungen aus romanischer Perspektive. Aber
ich glaube, dass wir ganz gut fahren mit der Devise: Tu recht und
scheue niemand. Gerechtigkeit und Wahrheit stehen für sich und können
nicht nach Klientelbindungen flexibel angewendet werden. Lieber einen
Nachteil in Kauf nehmen als das Gewissen zu verbiegen.

Frage: Gibt es denn diese Opposition gegen Franziskus, von der immer
wieder die Rede ist?

Antwort: Das ist eine Legende, die jeden sachlichen Beitrag
disqualifizieren will, der nicht in den kleinen Horizont von
Höflingen passt. Reale Opposition gegen das Lehr- und Hirtenamt des
Papstes, widerspricht auch dem katholischen Glauben. Der Papst steht
im Verhältnis zu den Kardinälen und Bischöfen nicht wie ein Chef zu
seinen Mitarbeitern. Er ist Bruder unter Brüdern, auch wenn ihm eine
besondere Verantwortung für die Einheit der Kirche und ihre
Gemeinschaft im Glauben zukommt. Und jeder Katholik, besonders jeder
Bischof und jeder Kardinal hat ein positives und konstruktives
Verhältnis zum Papst. Aber das ist alles andere als höfisches Gehabe
und subalternes Getue, gegen das sich Papst Franziskus immer
ausgesprochen hat. Bis am Schluss ein Lehrdokument herauskommt, muss
viel Vorarbeit geleistet werden. Das ist Aufgabe der Kongregation. In
der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils kann man das
gut nachstudieren. Manche meinen dann auch, die ganz beflissen sind
und so eine scheinheilige Papstdevotion pflegen: Der Heilige Vater
hat eine Idee und wir folgen dem bedingungslos und alle sind voller
Bewunderung. Der Papst ist auch nur ein Mensch. Das heißt, dass nicht
alles, was er macht und sagt, von vornherein schon vollkommen und
unüberbietbar ist. Der Heilige Geist steht dem Lehramt bei, aber er
ersetzt nicht die wissenschaftliche Zu-Arbeit der Theologie.

Frage: Papst Franziskus hat ja selbst von Widerständen gesprochen.

Antwort: Es gibt die allgemeine Idee, dass der Papst die Kurie
reformieren muss. Dann gibt es auf der anderen Seite die Vorurteile,
dass das hier irgendwie so ein Verein von verstockten Reaktionären
ist, die nur um Macht und Vorteil kämpfen. Das ist alles Unsinn, auch
wenn es in Tendenzromanen noch so oft verarbeitet und zu Geld gemacht
wurde. Das sind qualifizierte Priester oder Laien, die hier
mitarbeiten wollen. Die Kurienämter bestehen nicht für sich, um
eigenen Interessen zu folgen, sondern um dem Papst zu dienen. Ein
sachlicher Beitrag kann vom Autoritätsträger vielleicht auch
missverstanden werden als persönliche Kritik. Man muss sich - je
höher das Amt ist - der menschlichen Grenzen bewusst sein. Nur mit
qualifizierten Mitarbeitern kann das eigene Werk gut gelingen. Früher
hat man immer gesagt, ein guter Herrscher hat sich immer dadurch
ausgezeichnet, dass er die besten, auch unbequemen Berater sich an
die Seite geholt hat, nicht die Opportunisten und Mediokritäten, die
schon zu allen Zeiten zur Macht hindrängten.

Frage: Ein zentraler Aufgabenbereich der Glaubenskongregation liegt
bei der Aufklärung von Kindesmissbrauch. Ihnen wurde auch von dem
ehemaligen Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission, Marie
Collins, vorgeworfen, die Aufklärung zu behindern.

Antwort: Dem ganzen Medienhype liegt eine Verwechslung der ganz
verschiedenen Aufgabenstellung der Kinderschutzkommission und der
Kongregation für die Glaubenslehre vor. Unsere Leute mit einer
soliden kanonistischen Ausbildung arbeiten hervorragend in der
Vorbereitung eines kanonischen Strafprozesses. Aber es trifft einfach
nicht zu, dass wir in irgendeiner Weise bei der Verfolgung solcher
Straftaten nachlässig gewesen sind oder aus mangelndem Arbeitseinsatz
den Abschluss eines Prozesses verschleppt hätten. Das genaue
Gegenteil ist der Fall. Frau Collins erhob den Vorwurf, wir hätten
die Umsetzung von in sich durchaus guten Ideen verhindert. Aber die
Glaubenskongregation handelt als Tribunal nach den Strafbestimmungen
des Kirchenrechtes im Rahmen ihrer Kompetenz, solange der Papst das
Reglement nicht ändert. Die Aufgabenstellung der
Kinderschutzkommission ist anderer Natur, wenn auch ein informeller
Erfahrungsaustausch sehr zu begrüßen ist.

Frage: Wird die katholische Kirche beim Thema Missbrauch härter
verurteilt?

Antwort: Es ist offensichtlich, dass die katholische Kirche bei dem
Thema härter angegangen wird, dass Priester a priori verdächtigt
werden. Es gibt Geistliche - Gott sei es geklagt - die solche
Verbrechen begangen haben. Aber deshalb kann man nicht die anderen,
nur weil sie auch Priester sind, kollektiv verdächtigen. Prozentual
gesehen ist das mit Blick auf die Gesamtzahl der Geistlichen in der
Welt sogar weniger als bei vergleichbaren pädagogischen Berufsgruppen
- was die Straftat natürlich in keinster Weise entschuldigt und das
Leiden der Opfer mindert.

Frage: Woran liegt das Ihrer Meinung?

Antwort: Gegenüber den katholischen Geistlichen gibt es wegen des
Zölibats einfach diese Vorurteile. Da wird gedacht, wenn jemand
freiwillig enthaltsam lebt, muss er irgendwo seine Gefühle loswerden.
Selbst wenn das stimmen würde, würde ein normaler Mensch die
Beziehung zu einer Frau suchen und nicht zu einem Kind. Das ist ein
Defekt auf der Ebene der Psyche. Das hat nicht das Geringste mit der
geistlichen Berufung zu tun. Wenn klar ist, dass jemand diese
Schwäche hat, dann darf er gar nicht geweiht werden. Das setzt aber
voraus, dass er selbst oder andere vorher darum wissen.

Frage: Wie viele Anzeigen wegen Missbrauchs laufen denn bei der
Kongregation ein?

Antwort: Etwa 600 Prozesse werden jedes Jahr bei der
Glaubenskongregation durchgeführt. Das sind Verdachtsfälle, noch
nicht der Tatfall. Sehr viele Fälle gehen 40, 50 Jahre zurück, da
kann man sich vorstellen, wie schwierig das ist, den Tatbestand
aufzuklären. Ich war der, der sich dafür eingesetzt hat, dass die
kanonische Strafe bis zur Entlassung aus dem Klerikerstand geht. Da
habe ich auch gegen Widerstände kämpfen müssen. Die Sünden oder
Straftaten wiegen bei Priestern doppelt, weil der Priester Christus
repräsentiert und Vorbild sein muss für die Gläubigen.

Frage: Bräuchte die Kongregation mehr Mitarbeiter, um die Fälle
schneller zu bearbeiten?

Antwort: Es gibt auch zu wenig Sachbearbeiter. Leider sind dann auch
diejenigen in der Disziplinarabteilung, die hochqualifiziert waren,
entlassen worden. Deshalb rege ich mich auch auf. Einerseits sagt
man, es muss schneller gehen, andererseits nimmt man ohne jeden
sachlichen Grund die besten Mitarbeiter weg. Die zehn Sachbearbeiter
sind höchst effizient und hochmotiviert. Ich bin sehr stolz auf sie,
weil sie so hervorragend für die Kirche und den Papst gearbeitet
haben. Ein Prozess braucht von Natur aus Zeit, es geht hier um die
ganze Welt, es muss aus sechs Sprachen übersetzt werden, da tröpfeln
Informationen manchmal nur nach und nach ein. Die Dokumente dazu sind
ein Konvolut von bis zu 1000 Seiten. Manche denken, sie schreiben
einen Brief und bekommen gleich eine Antwort mit dem Urteil über
einen Angeklagten. Das ist einfach nicht möglich, weil der
Prozessablauf eine Struktur hat und nach objektiven Kriterien
durchgeführt werden muss.

Frage: Gerade erst wurde der australische Kardinal George Pell
beurlaubt, weil er sich Vorwürfen des Kindesmissbrauchs stellen muss.
Er sagt, er sei unschuldig ...

Antwort: Ich sehe keinen Grund, an den Aussagen von Kardinal Pell zu
zweifeln. Es gibt ja die Royal Commission, die vom Parlament aus
eingesetzt worden ist und die Fälle von Missbrauch in allen
Institutionen aufklären soll. Es ist auffällig, dass man sich da nur
auf die katholische Kirche konzentriert. Es geht darum, dass den
Opfern Gerechtigkeit zuteil wird, aber nicht, dass ganze
gesellschaftliche Gruppen an den Pranger gestellt werden. Weltliche
wie kirchliche Gerichte sind nicht unfehlbar, sie sind auch aus
Menschen zusammengesetzt.

(Müller schwenkt von sich aus zu Anschuldigungen in Deutschland, dass
er als damaliger Regensburger Bischof zu wenig gegen die Aufarbeitung
von Missbrauch unter anderem bei den Regensburger Domspatzen getan
habe.)

Bei meinem Amtsantritt in Regensburg hatte ich einen schon
gerichtlich und kirchenrechtlich behandelten Fall «geerbt». Nach
einer neuerlichen Straftat habe ich dann den Laisierungsprozess
eingeleitet und den Täter, der dann auch zum zweiten mal vom
weltlichen Gericht verurteilt wurde, aus dem Klerikerstand entlassen.
Ansonsten gab es erst ab 2010 Meldungen von Straftaten, die schon
Jahrzehnte vor meinem Amtsantritt Ende 2002 begangen wurden. Die
meisten Täter waren schon lange zuvor gestorben. Um den Opfern zu
helfen, wurden Diözesanbeauftragte bestellt, die mit einer Kommission
von Experten den Anzeigen sorgfältig nachgehen. Auch Fälle von
sexuellem Missbrauch und Körperverletzung bei einzelnen Einrichtungen
der «Domspatzen» (in Vorschule und Internat) wurden einbezogen. In
einem eigenen Hirtenbrief habe ich die Geschädigten aufgerufen, sich
dort zu melden. Eine «Chronologie der diözesanen Aufarbeitung von
2010-2016» gibt detaillierte Auskunft über die Tatsachen, die oft
weit von verbreiteten Fehlurteilen abweichen.

Frage: Wie sieht Ihre Zukunft nun aus?

Antwort: Ich bin alleine für dieses Amt nach Rom gegangen. Und es ist
nicht so wie wenn man bei einer Regierung berufen wird oder bei
internationalen Organisationen, wo alles bezahlt wird. Da hat sich
niemand um mich gekümmert. Ich bin drei Mal umgezogen, bis ich hier
in die jetzige Wohnung einziehen konnte, dann die Renovierung,
Klimaanlage, das alles auf eigene Kosten. Auch das Büro und den
Sitzungsraum habe ich möbliert, weil nichts da war. Die Kurie ist auf
Hilfe aus der Weltkirche angewiesen. Wenn man aus Deutschland kommt,
ist das selbstverständlich, dass die Diözesen helfen. Wir Deutschen
kriegen die Wohnungen, in die man am meisten investieren muss. Mehr
will ich dazu nicht sagen.