Verpönt und doch noch immer Alltag: Gewalt gegen Kinder Von Antje Müller, dpa

Eine Ohrfeige, emotionale Unterdrückung, sexuelle Gewalt - viele
Erwachsene haben damit in der eigenen Kindheit Erfahrungen gemacht.
Aber auch heute ist Gewalt gegen Kinder noch immer verbreitet,
physisch, psychisch und sexuell.

Berlin (dpa) - Obwohl Gewalt in der Kindererziehung gesellschaftlich
immer weniger akzeptiert ist, sind Schläge und emotionale Übergriffe
weiterhin ein Alltagsphänomen. 2016 ist die Zahl der Todesopfer unter
14 Jahren sogar gestiegen. Meist kommen die Täter aus der Familie.
Die Deutsche Kinderhilfe stellte am Donnerstag in Berlin gemeinsam
mit Experten Zahlen zu Gewalt an Kindern vor.

Wie viele Deutsche haben in ihrer Kindheit Gewalt erfahren?

Knapp ein Drittel (30,8 Prozent) der Bundesbürger gibt an, in der
Kindheit körperliche oder emotionale Gewalt erfahren zu haben, fast
jeder siebte (13,9 Prozent) Deutsche ist demnach Opfer sexuellen
Missbrauchs geworden. Das ergab eine repräsentative Umfrage unter
etwa 2500 Bundesbürgern zwischen 14 und 94 Jahren, die Forscher der
Universität Ulm im vergangenen März vorstellten. Die Zahl der
Todesopfer unter Kindern sei im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent
gestiegen, auf 133, teilte die Deutsche Kinderhilfe am Donnerstag
mit.

Wie akzeptiert sind Schläge in der Kindererziehung heutzutage noch?

In der Nachkriegszeit waren Schläge in der Kindererziehung oft noch
die Regel, seitdem wächst die Zahl derer, die körperliche Strafen
ablehnen. Für die Mehrheit sind «ein Klaps auf den Po» oder eine
Ohrfeige mittlerweile Tabu, sagte der Ulmer Experte für
Kindeswohlgefährdung Jörg M. Fegert im vergangenen Jahr. In einer
seiner Studien (2016) bewerteten 44,6 Prozent einen «Klaps auf den
Po» als akzeptabel (2005: 76,2 Prozent); eine leichte Ohrfeige
bewerteten 17 Prozent als in Ordnung (2005: 53,7 Prozent). Eine
Tracht Prügel mit Blutergüssen oder das Schlagen mit einem Stock
sahen im vergangenen Jahr nur noch 0,1 beziehungsweise 0,4 Prozent
als vertretbar an (2005: jeweils 1,9 Prozent).

Wer ist am häufigsten betroffen?

Da gibt es unterschiedliche Meinungen: Eine Studie der Universität
Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung aus dem Jahr 2013
zeigt: Heranwachsende aus armen Familien seien am stärksten von
körperlicher Gewalt betroffen. Sozial besser und durchschnittlich
gestellte Kinder erfuhren demnach deutlich seltener Gewalt. Dem
widerspricht die Professorin für Pädagogik an der Hochschule Koblenz,
Kathinka Beckmann: Gewalt gegen Kinder gebe es entgegen der gängigen
Vorurteile in Familien, die Hartz IV beziehen, genauso, wie in
Akademikerfamilien. Rund ein Viertel der Todesfälle unter Kindern
gibt es im Zusammenhang mit Trennungen und Streit um Sorgerecht.
Sinnvollste Gegenmaßnahme sei eine breit aufgestellte Kinderhilfe,
meint Beckmann.

Wer sind die Täter?

Die Gewalttäter kommen zum großen Teil aus dem häuslichen Umfeld:
Väter, Mütter, Onkel und Tanten, Freunde der Familie, sagte Beckmann
am Donnerstag. Julia Weiler, Psychologin und Expertin für Cyber Crime
und sexuelle Gewalt, meint: Ein Kind muss im Schnitt acht Erwachsene
ansprechen, bevor ihm geglaubt wird. Ein Grund sei die noch immer
vorherrschende Tabuisierung. Dass jemand aus dem eigenen Umfeld Täter
sein könnte, sei ein «schwerer Gedanke», sagte sie. Deshalb sei das
Dunkelfeld der Betroffenen sehr groß.

Welche Rolle spielt das Internet?

Eine immer größere. Soziale Netzwerke haben Gewalt gegen Kinder
fundamental verändert, sagt von Weiler, insbesondere über das
Smartphone seien Kinder und Jugendliche für Gewalttäter immer
erreichbar. Sie forderte, schon den Versuch des sogenannten
Cybergrooming - also das Ansprechen Minderjähriger im Netz mit dem
Ziel sexueller Kontakte - unter Strafe zu stellen.

Welche Spätfolgen bewirken Gewalterfahrungen in der Kindheit?

Menschen, die Missbrauch oder Vernachlässigung erlitten, haben ein
höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie ein
höheres Suizidrisiko. Deutlich häufiger als Menschen ohne
Gewalterfahrungen leiden sie an Übergewicht, Diabetes, Krebs,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Schmerzen, sagte Markus
Huber-Lang, Chirurg am Zentrum für Traumaforschung der Uni Ulm im
März 2017.