Wählen wie beim Song Contest? EU-Staaten ringen um Londoner Agenturen Von Ansgar Haase, dpa

Wohin ziehen zwei in London ansässige EU-Organisationen nach dem
Brexit? An dieser Frage hat sich unter den EU-Staaten ein heftiger
Streit entzündet. Deutschland würde am liebsten alle beide haben.

Luxemburg (dpa) - Deutschland ganz weit hinten und scheinbare
Außenseiter als Sieger: Was beim «Eurovision Song Contest» Jahr für

Jahr ertragen werden muss, könnte demnächst auch in der europäischen

Politik bittere Realität werden. Im Verteilungskampf um das
«Tafelsilber» des geplanten EU-Austritts Großbritanniens wollen
EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker ein Verfahren etablieren, das zumindest in Grundzügen an den
europäischen Musikwettbewerb ESC erinnert. Wer beim Brexit etwas
gewinnen will, muss sich demnach einem komplizierten Wahlverfahren
stellen und darauf hoffen, von anderen EU-Staaten unterstützt zu
werden.

Konkret geht es um die EU-Arzneimittelagentur EMA und die
Bankenaufsicht EBA. Beide EU-Organisationen sind derzeit in der
britischen Hauptstadt London ansässig. Wegen des geplanten Brexit
sollen sie aber nun so schnell wie möglich in einen der 27 verbleiben
den EU-Staaten umgesiedelt werden. Wer den Zuschlag erhält, kann auf
immense Zusatzeinnahmen hoffen. Die EMA und EBA richten jährlich
Hunderte Konferenzen und Veranstaltungen mit Experten aus aller Welt
aus. Zuletzt bescherten beide Agenturen in London für rund 39 000
zusätzliche Hotelübernachtungen pro Jahr.

Hinzu kommt, dass mit den Agenturen auch die meisten hoch
qualifizierten Mitarbeiter umziehen dürften. Die Arzneimittelagentur
EMA beschäftigte zuletzt immerhin rund 900 Menschen, die
Bankenaufsicht EBA kam auf knapp 200.

Die Bundesregierung würde am liebsten beide Agenturen nach
Deutschland holen. Sie hat bereits offiziell angekündigt, Bonn als
Standort für die Arzneimittelagentur und Frankfurt am Main als
Standort für die Bankenaufsicht nominieren zu wollen. Die Städte
brächten «exzellente Voraussetzungen» mit, kommentierte
Staatsminister Michael Roth am Dienstag bei Verhandlungen in
Luxemburg. Standortfragen seien aber natürlich nie einfach.

Wie sehr dies wahr ist, zeigte sich dann auch bei den Gesprächen.
Eigentlich sollten Roth und seine europäischen Kollegen dort bei
einem Ministertreffen eine Vorabentscheidung zu dem Vergabeverfahren
treffen. Daraus wurde allerdings nichts, weil einige EU-Staaten dem
von Juncker und Tusk vorgeschlagenen Wettbewerb aus Sorge vor einer
«Benachteiligung» nicht einfach so zustimmen wollten. Das Verfahren
könnte eigentlich ungeeigneten Standorten den Zuschlag bescheren,
wurde nach Angaben von Diplomaten von Ländern wie Italien
argumentiert.

Ein Risiko für eine «faire Entscheidung» könnte demnach vor allem d
ie
erste Wahlrunde darstellen. In ihr sollen alle 27 abstimmenden
EU-Staaten drei Punkte an ihren Favoriten sowie zwei Punkte an ihre
Nummer zwei und einen Punkt an ihre Nummer drei vergeben dürfen.
Kritiker des Verfahrens vermuten, dass dies zu einem Ausscheiden von
guten Standorten in der ersten Runde führen könnte, weil alle
Bewerberländer sich selbst die drei Punkte geben und die anderen an
scheinbar unqualifizierte Mitbewerber verteilen, um die Konkurrenz zu
schwächen.

Die EU-Kommission verweist hingegen darauf, dass sie alle
Bewerberstandorte bis zur geplanten Wahl nach sechs Kriterien
bewerten will. Zu diesen gehören unter anderem die
Arbeitsbedingungen, die Verkehrsanbindung, die bisherige Zahl der
EU-Agenturen und die Möglichkeit eines schnellen und problemlosen
Umzugs.

Nach dieser Bewertung soll es verantwortungsbewussten EU-Staaten
eigentlich unmöglich sein, «taktisch» abzustimmen. In der zweiten und

gegebenenfalls dritten Wahlrunde würde ohnehin jedes Land nur noch
eine Stimme haben. Für den äußert unwahrscheinlichen Fall, dass es
ein Remis gibt, soll zuletzt das Los entscheiden.

Die Entscheidung über das Verfahren werden nun die Staats-und
Regierungschefs treffen. Sie hatten die Vergabe neuer Standorte in
den Vergangenheit immer hinter verschlossen Türen ausgehandelt. Da
sich dieses Verfahren aber in der Regel über einen sehr langen
Zeitraum erstreckte, wird es in diesem Fall für unangemessen
gehalten. Man werde den Menschen nicht erklären können, dass es bei
der Zulassung neuer Arzneimittel Verzögerungen gebe, nur weil die
EU-Staaten sich nicht auf einen Standort für die zuständige Behörde
einigen können, sollen Kommissionsvertreter zuletzt die
Regierungsvertreter gewarnt haben. Bereits im Frühjahr 2019 will
Großbritannien aus der EU ausgetreten sein. Und bis dahin sollen auch
die EU-Arzneimittelagentur und die Bankenaufsicht eine neue Heimat
haben.