«Ich wünsch' mir eine normale Familie» - Kinder suchtkranker Eltern Von Ruppert Mayr, dpa

Die Rentenversicherung zahlt die Reha suchtkranker Menschen, die
Krankenversicherung deren gesundheitliche Versorgung. Aber was, wenn
diese Patienten Kinder haben? Wer zahlt deren Betreuung?

Berlin (dpa) - Die Mutter trinkt. Sie sitzt apathisch auf dem Sofa.
Die 15-jährige Natalie kümmert sich so gut es geht um die beiden
kleineren Schwestern. Doch die Mutter gibt Natalie die Schuld an
ihrer desolaten Lage. «Wegen euch Scheiß-Gören habe ich meinen Job
verloren. ... Am besten hätte ich Dich überhaupt nicht gekriegt. Dann
wäre Dein Scheiß-Vater auch nicht abgehauen.» Die Mutter wird
handgreiflich. Die Familie ist arm, sie lebt im Plattenbau. In der
Schule wird Natalie gemobbt.

Der Film «Glück ist eine Illusion» schildert - anonymisiert - das
Leben einer Jugendlichen in einer zerrütteten Familie mit einer
alkoholkranken Mutter. Das Mädchen hatte sich nach langem Zureden
einer Lehrerin geöffnet. Keine Frage, die suchtkranke Mutter braucht
Hilfe. Und die Kinder? Sie sind nicht auf dem Radarschirm des
Sozialsystems.

Medizinische Versorgung und Reha-Maßnahmen konzentrieren sich auf die
Betroffenen, auf die Patienten. Woher auch sollen Kinder und
Jugendliche wissen, wie sie mit der Sucht oder den Depressionen von
Vater oder Mutter umgehen sollen? Wer sagt ihnen, dass sie nicht
Schuld sind an dem Drama? Ohne Hilfe für beide Seiten kann der
Teufelskreis kaum durchbrochen werden.

Kinder süchtiger Eltern gelten als größte Risikogruppe, im Laufe
ihres Lebens selbst alkohol- oder drogenabhängig beziehungsweise
spielsüchtig zu werden. Sie zeigen im Vergleich zu Gleichaltrigen
deutlich häufiger Verhaltensauffälligkeiten wie
Konzentrationsschwäche und übermäßigen Bewegungsdrang (ADHS). Fraue
n
aus Alkoholikerfamilien sind nach Angaben von Experten häufig selbst
wieder mit Alkoholikern zusammen.

Mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche haben mindestens einen
suchtkranken Elternteil, vor allem geht es um Alkohol (2,65
Millionen), aber auch Drogen und Spielsucht. Die Dunkelziffer ist
hoch. Die Sucht der Eltern sei oft das «am besten gehütete
Familiengeheimnis überhaupt», bei dem auch die Kinder mitmachten,
sagte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler
(CSU), der dpa.

Um an betroffene Kinder ranzukommen, muss man ihre Sprache sprechen
und ihre Kommunikationsmittel nutzen. «Häufig ist es für einen
15-Jährigen leichter, den ersten Schritt zur Hilfe im Netz zu gehen,
unter Umständen sogar anonym», erläutert die Drogenbeauftragte.
Deshalb geht gerade für Jugendliche mit suchtkranken Eltern - quasi
als Soforthilfe - das bundesweite Onlineberatungsangebot «KidKit
networks» an den Start.

Zudem sollte die Zusammenarbeit der zuständigen Behörden,
insbesondere von Jugendhilfe und Suchthilfe, verbessert werden.
Suchthilfe hat vor allem den Patienten selbst im Blick, nicht das
(familiäre) Umfeld. Und die Jugendhilfe merkt möglicherweise, dass
mit dem betroffenen Kind etwas nicht stimmt, erkennt aber oft die
Ursachen nicht.

«Wenn ein Kind erkennbar Hilfe braucht, müssen alle an einem Strang
ziehen» - Jugendämter, Suchthilfe, öffentlicher Gesundheitsdienst vor

Ort. In Dresden etwa «beginnt die Zusammenarbeit schon in der
Geburtsklinik: Wenn auffällt, dass Eltern suchtkrank sind, dann
informiert das Krankenhaus das Jugendamt und die Suchthilfe. Dann
schauen alle gemeinsam, wie man der Familie von Beginn an zur Seite
stehen kann», erzählt Mortler und würde sich eine solche Kooperation

überall wünschen. 

In Baden-Württemberg und Bayern gibt es eine Initiative
Schulterschluss, die Beteiligte zusammenbringen und bei der Bildung
tragfähiger Netzwerke für betroffene Familien unterstützen will.
Zwischen 150 000 und 200 000 Euro liegen die Kosten für eine solche
Initiative. Das kann sich eigentlich jedes Bundesland leisten.

Aber auch der Bund ist gefordert: Zwischen den Säulen des
Sozialsystems müssen Brücken gebaut werden, fordert Mortler. So
finanziert die Rentenversicherung zwar die Reha der Eltern und die
Krankenkassen Gesundheitsbehandlungen. Für die Kosten der Hilfe für
deren Kinder fühlt sich aber keiner richtig zuständig.

Mortler hat in diesem Jahr Kinder aus suchtbelasteten Familien zu
einem Schwerpunktthema ihres Drogen- und Suchtberichts gemacht. Am
Montag spricht sie in Berlin auf einer Tagung mit Fachleuten und
Betroffenen darüber. Noch im Juni soll es zu einer Entschließung des
Bundestages kommen, die die Bundesregierung zum raschen Handeln
auffordert. «Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, wenn
jedes Jahr über 160 000 Kinder in suchtbelastete Familien
hineingeboren und ihrem Schicksal überlassen werden», mahnt Mortler.