Leben eines todkranken Babys vor Gericht - Eine Frage der Würde Von Claudia Kornmeier, dpa

Um ihr schwer krankes Kind am Leben zu halten, griffen zwei Briten
zuletzt zu juristischen Mitteln. Die Ärzte wollen die
lebenserhaltenden Maschinen abstellen. Nun soll das
Menschenrechtsgericht in Straßburg entscheiden.

Straßburg/London (dpa) - Charlie Gard ist krank. Sehr krank. Aus
seiner Nase ragen Schläuche, ein Pflaster bedeckt einen großen Teil
seines Gesichts. Der zehn Monate alte Junge leidet an mitochondrialer
Myopathie. Das ist eine seltene Erbkrankheit, die zu Muskelschwund
und Hirnschäden führt. Der Junge muss künstlich beatmet werden. Ohne

Hilfe kann er Arme und Beine nicht mehr bewegen, sein Gehirn ist
bereits stark geschädigt, heißt es in einem Urteil des britischen
Supreme Court von Anfang Juni. Seine Ärzte in London wollen Charlie
nun in Würde sterben lassen.

Dem Willen der Eltern entspricht das so gar nicht. Sie wollen jede
noch so kleine Chance ergreifen, um das Leben ihres Jungen zu retten.
Sie setzen auf eine experimentelle Therapie in den USA. Sie
verlangen, dass die Ärzte ihren Sohn am Leben halten, bis sie ihn
nach Amerika bringen können. Im Internet sammeln die beiden Briten
Spenden, um die Behandlung finanzieren zu können.

Doch die Justiz steht bislang auf Seiten der Mediziner. Durch alle
Instanzen hinweg erlaubten die Gerichte in Großbritannien, die
künstliche Beatmung abzubrechen. Eine Hoffnung bleibt den Eltern
noch: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Anfang Juni ordneten die Straßburger Richter vorläufig an, Charlie
weiter zu beatmen. «Mit einer Behandlung und Pflege, die angemessen
ist, um sicherzustellen, dass er so wenig wie möglich leidet und die
größtmögliche Würde beibehält.» In der Zwischenzeit will der
Gerichtshof die Beschwerde der Eltern genauer prüfen. Im Zentrum
steht die Frage: Haben sie ein Recht auf eine weitere Behandlung
ihres Sohnes? Ist es an ihnen statt an den Ärzten über den Abbruch
lebensverlängernder Maßnahmen zu entscheiden? Wann genau es ein
Urteil geben wird, ist unklar (Beschwerde-Nr. 39793/17).

«An dem Fall wird deutlich, dass die medizinrechtliche Kultur in
Großbritannien - anders als in Deutschland - sehr paternalistisch
geprägt ist», sagt der Basler Rechtsprofessor Bijan Fateh-Moghadam.
«Dem Staat wird recht großzügig gestattet, in das
Eltern-Kind-Verhältnis einzugreifen. Die staatlichen Gerichte treten
sozusagen als der oberste Erziehungsberechtigte auf.»

Macht bekämen dadurch auch die Mediziner, so Fateh-Moghadam. «Da
steckt der Gedanke dahinter: Wir wissen besser als die Eltern, was
dem Wohl des Kindes dient, die getrieben sind von ihren Emotionen.»

An Emotionen fehlt es im Fall Charlie Gard nicht. Die Mutter Connie
Yates postet auf Facebook regelmäßig öffentlich Fotos: Sie mit Mann
und Kind auf einer Wiese («Unser erstes Familienpicknick»); sie
selbst abgemagert am Bett ihres Sohnes («Das machen 7 Monate Stress
mit dir»); andere Kinder, die an derselben Krankheit leiden sollen,
aber dank einer Behandlung weiter leben («Charlies Zukunft?»).

Ein anderes Foto zeigt das Baby mit offenen Augen - aus Sicht der
Mutter der Beweis, dass die Einschätzung der Richter falsch ist. «Ein
Bild spricht tausend Worte», kommentiert sie und zitiert aus einem
der Urteile, dem das Foto widerspreche: «Er ist nicht durchweg in der
Lage seine Augen zu öffnen, um zu sehen. Das führt zu der
Schwierigkeit, dass sein Gehirn nicht lernt, zu sehen.»

Der Basler Jurist Fateh-Moghadam hält den Standpunkt seiner
britischen Kollegen für kritisch. «Es geht letztendlich um das
Selbstbestimmungsrecht, das bei Minderjährigen die Eltern
wahrnehmen.» Bei einem Missbrauch der Personensorge habe das zwar
seine Grenze. «Es kann etwa selbstverständlich nicht darum gehen, ein
hirntotes Baby monatelang weiter zu behandeln.» Eine solche Situation
sei aber im Fall von Charlie Gard nicht ersichtlich.

«Gerade bei existenziellen Entscheidungen haben die Eltern
grundsätzlich das Recht, ihre Hoffnungen auch auf einen
experimentellen Heilversuch zu setzen», sagt der Experte. Es komme
nun darauf an, ob der Menschenrechtsgerichtshof bei Fragen von Leben
und Tod des eigenen Kindes dem Elternrecht einen menschenrechtlichen
Kern gebe.