Mehr Zuckerkranke als vermutet - deutliches Ost-West-Gefälle Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Früher war Diabetes eine Erkrankung der Reichen. Heute gilt sie in
Deutschland als Risiko für sozial Schwache. Es gibt mehr Zuckerkranke
als gedacht - besonders im Osten der Republik.

Berlin (dpa) - In Deutschland leben mehr Menschen mit Diabetes als
bisher geschätzt: Inzwischen leidet rund jeder zehnte Bundesbürger
mit einer gesetzlichen Krankenversicherung an der chronischen
Stoffwechselerkrankung, heißt es in einer neuen Analyse für den
Versorgungsatlas, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Danach ist
der Anteil der Diabetiker zwischen 2009 und 2015 von 8,9 auf 9,8
Prozent gestiegen. Bisherige Schätzungen gingen nach Angaben der
Studienautoren von 7 bis 9 Prozent Diabetikern in Deutschland aus.

Nun wissen es die Forscher ganz genau, denn in die Analyse flossen
die anonymisierten Daten von rund 70 Millionen Kassenpatienten ein -
mehr geht kaum. «Neben einem altersbedingten Effekt geht der Zuwachs
wahrscheinlich auch auf die Lebensweise zurück», sagte Studienautor
Benjamin Goffrier. Viele Menschen ernährten sich zu zucker- und
fettreich, darüber hinaus fehle es an Bewegung. Bei Diabetes spielen
neben Übergewicht aber auch erbliche Anlagen eine Rolle.

Auffallend in der Studie ist, dass in Ostdeutschland deutlich mehr
Menschen (11,8 Prozent) an Diabetes erkranken als im Westen (9,2
Prozent). Oft tritt die Zuckerkrankheit bei ihnen auch früher auf.
Eine mögliche Erklärung dafür sei, dass im Osten die Einkommen im
Mittel niedriger und die Arbeitslosigkeit höher seien, sagte
Goffrier. Bei einem schlechteren sozialen Status sei oft auch die
Gesundheitsbildung nicht so hoch.

«Es kann aber auch sein, dass Menschen dort drei Jobs haben - und
einfach keine Zeit, sich gesund zu ernähren und ausreichend zu
bewegen», ergänzte der Wissenschaftler. Dazu sei Ostdeutschland
stärker ländlich geprägt. Das könne eine andere Ernährungstraditi
on
bedeuten - zum Beispiel mehr Fleisch oder je nach Region auch mehr
frittierte Gerichte.

In allen Altersgruppen erkranken Männer deutlich häufiger an Diabetes
als Frauen. Zuwächse gab es nicht mehr allein ab 65 Jahren, was bei
«Zucker» als Altersleiden in einer alternden Bevölkerung nicht sehr
überraschend wäre. Einen überproportionalen Anstieg beobachten die
Forscher seit 2009 auch bei jüngeren Erwachsenen - das ist ein
Alarmsignal.

Nach der neuen Analyse kommen jedes Jahr rund eine halbe Million
neuer Zuckerkranker mit Typ-2-Diabetes hinzu. Diese Variante tritt in
der Regel erst nach dem 40. Lebensjahr auf. Anders als Typ 1, der in
der Jugend beginnt, hat Diabetes im mittleren und höheren Alter vor
allem mit dem Lebensstil zu tun.

«Früher war es eine Krankheit der Reichen, weil nur sie sich zucker-
und fetthaltige Lebensmittel in großen Mengen leisten konnten», sagte
Goffrier. In den Industrieländern habe sich die Lage nun aber
umgedreht: Menschen mit gutem Einkommen und Bildung achteten oft
besonders stark auf eine gesunde Ernährung. Die sozial Schwächeren
griffen im Supermarkt eher zu ungesünderen Fertigprodukten und Fast
Food.

Dieser Effekt spiegelt sich in den Regionen wieder. Im Kreis
Starnberg bei München, einer der wohlhabendsten Gegenden der
Republik, leben die wenigsten Diabetiker (6,5 Prozent). In der
strukturschwachen brandenburgischen Prignitz gibt es die meisten -
mit 14,2 Prozent sogar mehr als doppelt so viele.

Neben Ostdeutschland ließen sich Unterschiede auch an den
überdurchschnittlich hohen «Zucker»-Zahlen für das Saarland (10,8
Prozent) ablesen, sagte Studienautor Goffrier. Berlin folgt mit 10,4
Prozent. Die wenigsten Zuckerkranken gibt es in Schleswig-Holstein
(8,3 Prozent), Baden-Württemberg (8,53) Prozent) und Hamburg (8,54
Prozent).

In der Liste der Volkskrankheiten in Deutschland rangiert Diabetes
nach Angaben des Robert Koch-Instituts in Berlin auf dem fünften
Rang. An der Spitze liegen weiter Herzkreislauf- und
Krebserkrankungen.