«Für mich war es jeden Tag eine Vergewaltigung» Von Violetta Kuhn sowie Gregor Fischer und Felix Kästle , dpa

Das Grauen liegt Jahrzehnte zurück: In der DDR wurden Tausende Frauen
wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten in Kliniken gesperrt und
gequält. Viele waren gar nicht krank. Eine Betroffene erzählt von
ihrem Leid, das bis heute dauert.

Berlin (dpa) - Das ehemalige DDR-Klinikgelände ist heute eine schicke
Wohnsiedlung. Doch Barbara Ost erinnert sich noch ganz genau, welche
Qualen sie vor Jahrzehnten hier erlebte. Hinter Gitterstäben, dicken
Milchglasfenstern und Stahltüren war sie vier Monate lang gefangen.

Barbara Ost war Insassin einer geschlossenen Station für
Geschlechtskranke in Berlin-Buch, ganz im Norden der Hauptstadt. Ohne
eine Erklärung zu bekommen, wurde sie dort mit 16 Jahren abgeliefert.
Geschlechtskrank sei sie nie gewesen, sagt sie.

Was die heute 59-Jährige erlebte, hatte in der DDR System. Bis zur
Wende 1989/90 wurden in den sogenannten geschlossenen venerologischen
Stationen Tausende Frauen wegen angeblicher Krankheiten eingesperrt.

In nahezu allen größeren Städten gab es die Abteilungen: in Halle,
Leipzig, Erfurt, Gera, Dresden, Rostock, Schwerin, Frankfurt (Oder)
und eben Berlin. Nur jede dritte eingewiesene Frau war wirklich
krank. Das schrieben DDR-Ärzte schon in den 70er Jahren in einer
Fachpublikation.

Barbara Ost war auf der Flucht vor dem Stiefvater, der sie
missbrauchte, und vor ihrer prügelnden Mutter, als Polizisten sie
aufgriffen. Sie bekam etwas zu trinken und wachte auf der Wache
wieder auf. Vergewaltigt, sagt sie. Von dort ging es direkt nach
Buch.

Erst wähnte sie sich noch in einem gewöhnlichen Krankenhaus. «Als ich

die Treppe hochgekommen bin, hab' ich ja noch ganz normale Patienten
gesehen», sagt sie. «Und dann mussten wir nach links.» Von da an war

nichts mehr normal.

In einem Zimmer hieß es: Ausziehen! Vor den Augen zweier Schwestern,
zweier Ärzte und zweier Polizisten. Ost bekam den Kittel der Station.
«Und dann kam der große Schock.» Ihre sonst durchdringende Stimme
wird leise. Sie knetet ihre Finger, deren Nägel bunt lackiert sind.
«Die Tür. Die Stahltür. Und ich wusste, hier kommst du nie wieder
raus. Kein Mensch fragt, wo du bist. Kein Mensch weiß, wo du bist.
Und ich weiß nicht, warum ich hier bin.»

Barbara Ost verlor in der Station ihr Zeitgefühl. «Außer Schmerzen
geht nichts mehr in den Kopf rein», sagt sie. «Für mich war es jeden

Tag eine Vergewaltigung, mich da auf diesen Stuhl draufzusetzen.»

Was treibt einen Staat dazu, massenhaft gesunde Mädchen und Frauen
wochenlang in Stationen für Geschlechtskranke zu sperren? Der
Medizinhistoriker Florian Steger hat mit Dutzenden Zeitzeugen
gesprochen und zwei Bücher zum Thema veröffentlicht. Sein Ergebnis:
«Es ging darum, Frauen, die nicht das Idealbild der DDR erfüllten,
mit einem sehr restriktiven Reglement, was Belohnung und Bestrafung
kannte, zu disziplinieren.»

In manchen Stationen standen die Strafen sogar in der Hausordnung. In
Halle an der Saale beispielsweise mussten Frauen, die nicht
gehorchten, die Nacht auf einem Hocker im Flur verbringen. Sie wurden
allein in eine Zelle gesperrt oder bekamen nichts zu essen.

Im DDR-weiten Schnitt waren die Eingewiesenen 22 Jahre alt, die
jüngsten waren 12. Obwohl viele keine Krankheit hatten, mussten sie
tägliche gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen.
Diese wurden oft mit Absicht grob durchgeführt - zu
Erziehungszwecken. Die Frauen bekamen Medikamente, ohne zu wissen,
wogegen. Auf eine Entschädigung warten die meisten Insassinnen noch
heute.

Dass streng gegen Geschlechtskrankheiten vorgegangen wurde, war in
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nichts Ungewöhnliches. Die
Angst vor Gonorrhö und Syphilis, die unbehandelt zu Lähmungen führen

kann, saß tief. Die Besatzungsmächte ergriffen daher überall in
Deutschland Maßnahmen, um die Ansteckungen einzudämmen.

In der Sowjetischen Zone und der späteren DDR sollten geschlossene
Abteilungen das allerletzte Mittel sein - zum Beispiel für Kranke,
die eine Behandlung verweigerten. Doch die Gesetze wurden regelmäßig
gebrochen, sagt Steger in seinem Büro am Institut für
Medizingeschichte in Ulm, wo er lehrt.

Transportpolizisten griffen Jugendliche auf, die an öffentlichen
Orten herumhingen, sogenannte Arbeitsbummelantinnen oder
Herumtreiberinnen. Überforderte Eltern lieferten ihre Töchter in den
Stationen ab. Jugendliche wurden gebracht, wenn man in den
Jugendwerkhöfen, den DDR-Erziehungsheimen, nicht mehr mit ihnen
zurechtkam. Und Frauen wurden als «HwG-Personen» denunziert - als
Personen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern - und
eingewiesen.

Barbara Ost musste in Berlin Buch nicht nur die sinnlosen
Untersuchungen erleiden. Auf dem Rücken der Insassinnen wurden auch
Lippenstifte und Kajalstifte getestet. «Man hat sich totgekratzt,
Ausschlag bekommen, oh Gott», sagt Ost. «Wir waren ihre
Versuchskaninchen.»

Aus Verzweiflung schlug Ost in zweiwöchiger Arbeit mit einer
Klobürste ein kleines Loch in eines der Milchglasfenster. Die
Mitinsassinnen standen Schlange, um frische Luft zu atmen. Ein
anderes Mal wollten Ost und ihre Zimmergenossinnen ihre Betten
anzünden. «Bis wir gemerkt haben: Das bringt nix. Die finden uns hier
nicht», sagt sie. Die Station wurde nicht durchgehend beaufsichtigt.

Schließlich wurde Barbara Ost aus der venerologischen Station
entlassen und im Jugendwerkhof untergebracht. «Der Staat, der uns
helfen sollte, der uns hätte auffangen müssen und uns beschützen, der

hat uns weggesperrt und uns noch mal zusätzlich gequält», sagt sie.

Dass heute öffentlich über dieses lange vergessene Kapitel diskutiert
wird, ist vor allem einer zu Frau verdanken: Heidi Bohley, der
Schwägerin der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Sie leitet den
Verein «Zeitgeschichte(n)» in Halle. Sie war es, die 2000 der
Leidensgeschichte einer Betroffenen Glauben schenkte.

Auch weil die Lokalpresse über die Geschehnisse in der Klinik
berichtete, meldeten sich nach und nach mehr Frauen bei Bohley und
bei der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit
Neumann-Becker. «Das Kapitel war gar nicht beachtet», sagt
Neumann-Becker. 2013 stieß sie die Forschung durch Florian Steger an.

Wie viele Frauen genau in venerologische Stationen eingeliefert
wurden, kann der Medizinhistoriker nicht sagen. Doch allein im Jahr
1968 kamen DDR-weit 2763 Frauen in solche Abteilungen. Das belegt ein
damaliger Fachartikel. Manche Kliniken verzichteten mit der Zeit auf
Zwangseinweisungen. Andere hielten bis zur Wende daran fest.

Auch im Westen gab es zwar geschlossene Stationen für
Geschlechtskranke, wie Steger berichtet, beispielsweise in Frankfurt
und Hamburg. Aber diese seien weit entfernt gewesen von den «totalen
Institutionen» der DDR. Ein genauer Ost-West-Vergleich stehe noch
aus.

Stegers Aufklärung hat bereits einiges bewirkt: Den Insassinnen der
«Tripperburg» in Halle wurde im Herbst 2015 eine Gedenktafel
gewidmet. Der Bundestag befasste sich im vergangenen Sommer mit den
venerologischen Stationen - auf eine Kleine Anfrage der Grünen hin.

Und die Frauen haben es nun einfacher vor Gericht, ihr Leid zu
belegen. Zwei Betroffene erstritten 2016 eine Rehabilitierung. Das
heißt: Der Freiheitsentzug ist als rechtsstaatswidrig anerkannt,
erklärt Birgit Neumann-Becker. Daraus ergibt sich ein Anspruch auf
Entschädigung.

Bleiben die körperlichen und seelischen Spätfolgen. Dafür
Entschädigung zu bekommen, wird sehr schwer. Die heutigen Probleme
müssen genau auf die Zeit auf der Station zurückgeführt werden.

Barbara Ost ist überzeugt, dass ihre Erlebnisse in Buch bis heute
nachwirken: Sie fürchtet sich vor Ärzten und bekommt Panik in
geschlossenen Räumen. Andere Frauen verloren jedes Interesse an Sex,
sind inkontinent oder konnten keine enge Beziehung zu ihren Kindern
oder Männern aufbauen.

Verbittert ist Ost nicht. «Weil es früher so war, versuche ich heute,
intensiver zu leben, was mir natürlich nicht immer gelingt», sagt
sie. Ihr Markenzeichen: immer mindestens ein pinkes Kleidungsstück -
weil in ihrer Jugend alles so grau war. Heute sind es rosa Socken.

Ost schreibt zwei Bücher. Und mit einer Bekannten, die ebenfalls in
Buch gefangen war, will sie ein Theaterstück über ihre Leidenszeit
auf die Beine stellen. Aufführungsort: auf dem ehemaligen
Klinikgelände. «Ich will nicht, dass das vergessen wird», sagt sie.