Als die Zellen unsterblich wurden: Der Fall Henrietta Lacks Von Christina Horsten, dpa

Kaum jemand würde sich wohl an Henrietta Lacks erinnern, wären ihre
Zellen nicht die ersten gewesen, die sich im Labor vermehrten. Für
die Medizin eine Revolution, für die Familie der Beginn einer
Leidensgeschichte. Zum 65. Todestag wird Lacks' Geschichte verfilmt.

Baltimore/Heidelberg (dpa) - Mit stechenden Bauchschmerzen geht eine
junge Frau in Baltimore Anfang 1951 zum Arzt. Acht Monate später ist
Henrietta Lacks tot, an diesem Dienstag (4. Oktober) ist das genau 65
Jahre her. Gebärmutterhalskrebs. «Ich hatte zu diesem Zeitpunkt
wahrscheinlich schon 1000 Patienten mit Gebärmutterhalskrebs
gesehen», wird Howard Jones, ihr behandelnder Arzt im Johns Hopkins
Krankenhaus, später schreiben. «Aber dieser Tumor war anders als alle
anderen. Er war so groß wie eine Münze, sehr lila und weich, dabei
sind solche Tumore normalerweise hart.»

Jones entnahm seiner Patientin Zellen und gab die Gewebeprobe der
Geschwulst an das Labor des Kollegen George Gey und dessen Ehefrau
Margaret. Sie legten die Probe in ein Gemisch aus Hühnerplasma, einem
Extrakt aus Kalbsembryonen und menschlichem Nabelschnurblut, stellten
es in einen Kühlschrank - und erwarteten das baldige Absterben des
Gewebes. Denn bislang war es niemandem weltweit gelungen, menschliche
Zellen im Labor für mehr als nur ein paar Wochen am Leben zu halten.

Doch die Zellen, auf deren Behälter Margaret Gey die
Anfangsbuchstaben des Namens der Patientin - «HeLa» - geschrieben
hat, wachsen und wachsen und wachsen. Über Nacht verdoppeln sie sich.
Bald sind es Millionen von menschlichen Zellen - die ersten, die sich
jemals in einem Labor vermehrt und für mehr als nur ein paar Tage
überlebt haben. «In der Geschichte der Forschung nimmt das eine
Spitzenposition ein», sagt Elisabeth Schwarz, Biologin am Deutschen
Krebsforschungszentrum in Heidelberg. «Das war eine wissenschaftliche
Sensation.»

Erstmals in der Geschichte der Medizin kann auf einmal ausgiebig an
menschlichen Zellen geforscht werden. George Gey verschickt «HeLa»
freigiebig in Labore in aller Welt. Wissenschaftler vermischen ihr
neues Forschungsobjekt mit den Zellen von Mäusen und Hühnern, sie
analysieren daran die Auswirkungen von Krebs, Kinderlähmung und Aids.
«Das war, als hätte jemand auf den Schalter gedrückt», sagt Biologi
n
Schwarz. Auch in der Molekularbiologie und der Zellbiologie wird bald
eifrig an «HeLa» geforscht. Die Zellen der jungen Frau aus Baltimore
werden zum Standard in jedem Labor - und sind es bis heute.

Selbstverständlich gebe es inzwischen hunderte anderer Zelllinien,
sagt Biologin Schwarz. Aber noch immer sei die allererste eine der
begehrtesten. «'HeLa'-Zellen wachsen sehr unproblematisch und sie
sind sehr robust. Eine Zelle teilt sich in 24 Stunden, bei anderen
Zelllinien dauert das viel länger.» Warum gerade diese Zellen so
schnell und robust wachsen, bisweilen sogar so sehr, dass sie andere
Zelllinien einfach überfallen, überwuchern und für die Forschung
unbrauchbar machen, das können Forscher bis heute nicht genau sagen.

An «HeLa»-Zellen gelang unter anderem dem langjährigen Vorsitzenden
des Deutschen Krebsforschungszentrums, Harald zur Hausen, seine
spektakulärste Entdeckung. Er fand darin die humanen Papillomviren
HPV16 und HPV18. Es habe sich sofort die Frage gestellt, ob das
genetische Material der Viren bei der Entstehung des Tumors eine
Rolle spielt, erzählt Schwarz, die damals zur Hausens Assistentin
war. Ergebnis jahrelanger Forschung: Die Viren können die Ursache für
einen Tumor sein. Ein Impfstoff wird entwickelt, zur Hausen bekommt
2008 den Medizin-Nobelpreis. Aus einem Tumor im Gebärmutterhals ist
rund ein halbes Jahrhundert später die Basis für einen Impfstoff
dagegen geworden.

Henrietta Lacks konnte von all dem nichts ahnen. Die Afroamerikanerin
starb wenige Monate nachdem sich die Zellen ihres Tumors erstmals
vermehrt hatten im Alter von nur 31 Jahren. Niemand habe die Mutter
von fünf Kindern, die in ärmlichen Verhältnissen auf einer Tabakfarm

in Virginia aufgewachsen war, je gefragt, ob aus ihrem Körper Gewebe
entnommen werden dürfe, schreibt die US-Wissenschaftsjournalistin
Rebecca Skloot, die die Geschichte von Henrietta Lacks erforscht hat,
in ihrem Buch «Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks».

Skloots Recherchen zufolge erfuhren die Nachfahren erst rund zwanzig
Jahre später und nur durch Zufall, dass einige Zellen ihrer Mutter
noch lebten. Für die Kinder sei das ein Schock gewesen, schreibt
Skloot. «Sie glauben ans Beten, Glaubensheilungen und manchmal an
Voodoo. Sie sind in einer afroamerikanisch geprägten Gegend
aufgewachsen, die zu den ärmsten und gefährlichsten des Landes
gehört. Henriettas Tochter Deborah glaubt daran, dass der Geist ihrer
Mutter in ihren Zellen weiterlebt.»

Geld haben die Nachfahren für die unbewussten Verdienste ihrer Mutter
eigenen Angaben zufolge nie bekommen und auch bis zur öffentlichen
Anerkennung dauerte es. In dem Waldstück in Virginia, in dem das Grab
von Lacks vermutet wird, steht seit einigen Jahren eine Gedenktafel.
Im Juni 2011 bekam sie posthum die Ehrendoktorwürde der Morgan State
Universität in Baltimore verliehen. Und zum 65. Todestag wird Lacks'
Geschichte nun verfilmt - mit US-Fernsehstar Oprah Winfrey als
Deborah Lacks.

«Die Geschichte von Henrietta Lacks hat den Anstoß gegeben, dass man
inzwischen vorher fragt, wenn menschliches Material für
Forschungszwecke verwendet wird», sagt Schwarz. «Heute ist das
Standard, aber damals hat man sich einfach noch keine Gedanken drüber
gemacht.»