AOK-Chef: «Fallzahlrekorde sind ein gefährliches Symptom» Interview: Basil Wegener, dpa

Berlin (dpa) - Im vergangenen Jahr hat es in Deutschland laut AOK
310 000 mehr Klinikbehandlungen gegeben als ein Jahr zuvor. Warum ist
das so, warum verzeichnen die Krankenhäuser immer neue Rekorde? Der
geschäftsführende Vorstand des AOK-Bundesverbands, Uwe Deh, warnt im
Interview der Deutschen Presse-Agentur vor Risiken für die Patienten
- und fordert grundlegende Reformen.

Inwieweit kann man einem Klinikarzt vertrauen, wenn er einem
Patienten zur Operation rät?

Deh: «Die allermeisten Ärzte machen tolle Arbeit, aber die
Krankenhäuser können offensichtlich nicht mehr in jedem Fall
garantieren, dass ein Eingriff ausschließlich aus medizinischen
Gründen stattfindet. Jährlich neue Fallzahlrekorde sind ein
gefährliches Symptom. Wenn Klinikchefs sagen, ihnen bliebe nur die
Flucht in die Menge, ist das ein extrem schriller Hilferuf.»

Warum argumentieren die Klinikmanager so?

Deh: «Zwischen den Krankenhäusern herrscht außerordentliche
Konkurrenz. Sie agieren dann oft rein betriebswirtschaftlich. Der
Wettbewerb darf aber nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen
werden.»

In welchen Bereichen wird am ehesten unnötig operiert?

Deh: «Da, wo es lukrativ ist. Innerhalb von fünf Jahren gab es eine
Verdoppelung bei den Eingriffen an der Wirbelsäule, 38 Prozent mehr
Eingriffe speziell an den Bandscheiben und ein Viertel mehr bei den
Defibrillatoren zur Herzunterstützung. Diese AOK-Zahlen geben auch
den Trend für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung wider.
Solche Steigerungen sind nicht durch die Zunahme des Anteils Älterer
in der Gesellschaft oder der Krankheiten erklärbar. Zunehmend
berichten auch Patienten über ihre Unzufriedenheit und Erfahrungen
mit fragwürdigen Eingriffen. Ich bin froh, dass mittlerweile auch aus
dem Kreis der ärztlichen Fachgesellschaften auf das Mengenproblem
hingewiesen wird.»

Gibt es Bereiche, in denen man Entwarnung geben kann?

Deh: «Außer bei der Behandlung kleiner Kinder aufgrund stagnierender
Geburtenzahlen gibt es zumindest in keinem Bereich Rückgänge.
Insgesamt stieg die Zahl der Klinikbehandlungen im vergangenen Jahr
um 310 000 Fälle auf mehr als 18 Millionen. Nur etwa ein Drittel des
Anstiegs rührt aus der demografischen Entwicklung her.»

Warum wird vielen Patienten nicht vorher geholfen, bevor ein
Krankenhaus zu einer Operation rät?

Deh: «Das Zusammenspiel von niedergelassenen Ärzten, auch
spezialisierten Fachärzten und Kliniken, aber dann auch
Rehabilitation und Pflege klappt schlecht. Die Krankenhauseinweisung
ist dann oft die Ultima Ratio. Die angemessene und abgestimmte
Behandlung des Patienten von Beginn an ist in Deutschland leider
nicht der Regelfall. Dabei wären so schwere Krankheitsverläufe
vielfach vermeidbar.»

Sind nicht die schlechten Klinikfinanzen das Hauptproblem? Laut
Deutscher Krankenhausgesellschaft schreibt bald jedes zweite Haus
rote Zahlen - kein Wunder, dass sie viel operieren. Denn dafür gibt
es feste Pauschalen.

Deh: «Solche düsteren Prognosen kommen jedes Jahr, guckt man am Ende
in die Bilanzen, stehen viel mehr Kliniken gut da. Das System der
Pauschalen pro jeweiligem Behandlungsfall ist gut, da es den Anreiz
zur Wirtschaftlichkeit setzt. Aber dem Preissystem fehlt es an der
richtigen Flankierung. Eine moderne, am medizinischen Bedarf und an
zukunftsfähigen Strukturen ausgerichtete Landesplanung wäre eine
solche Flanke. Tatsächlich verharren die Länder mit ihrer
nachvollziehenden Planung von Standorten, Abteilungen oder sogar
Betten im letzten Jahrhundert. Gleichzeitig kommen sie ihrer Pflicht
zur Finanzierung von Gebäuden und Ausstattung nicht nach. Das hat
keine Zielorientierung mehr.»

Was erwarten Sie von Gesundheitsminister Daniel Bahr?

Deh: «Dass er die nächsten notwendigen Schritte auch noch geht. Wenn
den Krankenhäusern nun im Vorwahlkampf mehr Geld aus der Gießkanne
versprochen wird, klärt das noch keines der strukturellen Probleme.
Deren Lösung gehört aber auf die Agenda.»

Was müsste passieren?

Deh: «Kurzfristig müssen die Schrauben an der Mengenbremse fester
angezogen werden, um das Primat der Medizin zu stärken. Und künftig
dürfen sich die Länder nicht weiter wegducken. Wenn sie die heutigen
teuren Klinikstrukturen in Zeiten der Schuldenbremse nicht
aufrechterhalten können, sollten sie dies sagen. Nach der
Bundestagswahl müssen Bund und Länder zu einer grundlegenden
Krankenhausreform kommen. Zusätzlich müssen wir die Bezahlung der
Krankenhäuser stärker an der geleisteten Qualität ausrichten. Unsere

Qualitätsmessungen zeigen, dass rund 20 Prozent der Kliniken schlecht
abschneiden. Derzeit müssen wir diese Kliniken aber genauso bezahlen,
wie die Krankenhäuser mit guten oder sehr guten Ergebnissen.»