Keiner geht verloren im «Haus der Arbeit» Von André Jahnke, dpa

Sie waren die Extremfälle in der Psychiatrie. Geistig behindert und
zudem drogen- oder alkoholabhängig. Viele verweigerten die üblichen
Therapien in der Klinik. Erst durch die Arbeit an einer Bauruine
blühen sie auf und erkennen ihren Selbstwert.

Sehnde (dpa) - Eckardt Goldbach macht den Abwasch und bringt mal
den Müll raus. Ansonsten schläft er viel und puzzelt. Der 66-Jährige

ist schon 36 Jahren in der Psychiatrie und Alkoholiker. Seit Januar
blüht Eckardt auf, in dem «Haus der Arbeit» wie er es nennt. In dem
zweistöckigen Fachwerkhaus in Sehnde bei Hannover werkeln 45
psychisch kranke Menschen, die zudem alkohol- oder drogenabhängig
waren oder noch immer sind. «Es ist für Leute, die was auf dem Kasten
haben», sagt er stolz. Und täglich beweisen das die Bewohner des
Klinikums Wahrendorff beim Umbau des renovierungsbedürftigen Hauses.

«Wir nutzen die handwerklichen Fähigkeiten der Bewohner und
stimmen alle Umbaupläne mit ihnen ab», erläutert Susan Wegner, die
das nach Klinikumsangaben bundesweit einzigartige Projekt
koordiniert. Ziel sei es den ehemaligen «Problemfällen» zur
Selbstständigkeit zu verhelfen und mit einer Tagesstruktur
Alternativen zur Sucht zu geben.

Mit schwerem Werkzeug schlagen sie Wände ein, ziehen neue Mauern
im Innenbereich hoch, senken Decken ab, tapezieren, streichen und
legen Laminat. «Es macht mir viel Spaß. Ich bin gern unter Menschen.
Hier ist es besser als auf der Station», sagt Frank Müller. Der 41-
Jährige ist gelernter Schlosser und war dreieinhalb Jahre auf der
geschlossenen Station, hatte täglich ein bis zwei Stunden Ausgang.
«Herr Müller hat immer versucht abzuhauen, um sich Tabletten zu
besorgen», erzählt Heilerziehungspfleger Dieter Heger. Jetzt schnitzt
Frank filigrane Figuren für das Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel im
Freizeitzimmer.

«Wir wollten nicht hinnehmen, dass wir manche Patienten mit
unseren zahlreichen Therapiemöglichkeiten nicht erreichen konnten»,
erklärt der Geschäftsführer des Klinikums Wahrendorff, Alfred Jeske.

Nach eigenen Angaben ist das Klinikum mit derzeit 960 Patienten
Europas größte psychiatrische Einrichtung in privater Trägerschaft.
Als der Vorschlag der Mitarbeiter kam, das etwas heruntergekommene
ehemalige Wärterhaus der Klinik an einer Landstraße im Sehndener
Ortsteil Ilten in die Therapiemaßnahmen einzubinden habe er sofort
zugestimmt. Zu Beginn des Jahres starteten die Umbauarbeiten. Die
Sorgenkinder der Klinik bekommen ihre Medikamente und gehen voller
Elan zur Arbeit, wie sie es selbst nennen.

Innerhalb eines halben Jahres haben die geistig und seelisch
Behinderten die Ruine in ein kleines Schmuckstück verwandelt. Küche,
Badezimmer, Computerraum, Musikzimmer und Entspannungsraum - alles
haben sie in Eigenleistung und mit Möbelspenden geschafft. Zwischen
8.00 und 16.30 Uhr wird gearbeitet. «Jeder macht so lange und so viel
er kann», sagt Sozialpsychiaterin Tanja Sievers.

Hinterm Haus wachsen im selbstangelegten Beet Rosen und Tomaten.
Hans Dieter Swierkusz kümmert sich liebevoll um die Pflanzen, düngt,
schneidet und gießt sie. «Nur ich trinke zu wenig», sagt der 69-
Jährige. Als alle am Tisch lachen, weil er Alkoholiker ist, strahlt
er auch. Die Stimmung ist ausgelassen. Freude am Leben hatten sie
zuvor nicht allzu häufig.

«Wir wollen es uns hier gemütlich machen, aufeinander aufpassen»,

sagt Steffen Herfurth. Der 26-Jährige ist gelernter Zimmermann und
darf daher als einziger an die elektrischen Sägen. Ein Privileg, dass
ihm sichtbar gut tut. «Ich zeige den anderen gerne wie gemessen und
gesägt wird.»

Immer auf den Fersen der beiden Betreuer ist Patrik. Der 19-
Jährige ist der heimlicher Liebling im «Haus der Arbeit». Mit vier
Jahren kam er ins Heim, trank schon früh Unmengen an Alkohol und
rauchte Haschisch. Seine Mutter und sein Bruder starben beide an
Drogen. «Er hatte keine Kindheit. Er ist mein Sorgenkind, weil er
noch so jung ist», sagt Dieter Heger. Der junge Mann weicht ihm nicht
von der Seite. «Ich lerne alles von ihm. Ich habe den Putz von den
Wänden abgeschlagen und Mörtel angerührt», erklärt Patrik. Was au
s
dem «Haus der Arbeit» wird, ist noch unklar. Nur die Arbeiter sind
sich einig. «Wir wollen hier wohnen», sagen sie einstimmig.

Eckardt Goldbach hat sich inzwischen in sein Reich zurückgezogen.
In der ersten Etage liegt er gerne auf dem goldumrandeten Sofa aus
den 60er Jahren. Und wenn er wieder Kraft hat, wartet schon der
nächste Müllsack oder eins der beiden unvollendeten Puzzle, die auf
dem Glastisch liegen.

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## Internet
- [Klinikum Wahrendorff](http://wahrendorff.de)

## Orte
- [Klinikum Wahrendorff](Rudof-Wahrendorff-Straße 22, Sehnde)
- [Haus der Arbeit](Landstraße am Ortsausgang Ilten)