Das Vogelgrippevirus H5N1

Wann kommt die Mutation zum „Supererreger“

Das Vogelgrippevirus H5N1 ist winzig klein und hat nur acht Gene. Dennoch könnte es sich nach Befürchtungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer Bedrohung mit weltweit bis zu 150 Millionen Toten auswachsen. Voraussetzung wäre die Kreuzung mit einem menschlichen Grippevirus oder eine eigene genetische Veränderung (Mutation) des Erregers. Ein solcher «Supererreger» wäre dem Immunsystem des Menschen nicht bekannt und könnte sich rasend schnell im Körper verbreiten.

“Die Mutation des Virus ist längst überfällig“, so Prof. Matthias Stoll von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Wir warten alle darauf, dass das eintritt.“ Eine Weiterentwicklung des Erregers sei relativ schnell möglich. Noch gibt es keine Anzeichen für ein solches Virus, das sich leicht von Mensch zu Mensch übertragen lässt. „Bislang ist die Vogelgrippe eine Tierseuche“, betonen Forscher wie der Virologe Hans-Dieter Klenk. Er leitet das Institut für Virologie an der Universität Marburg und ist in Deutschland einer der führenden Kenner der Influenzaviren.

Die Virologen unterteilen Influenzaviren in die Typen A, B und C. Nur Typ A, zu dem auch der Vogelgrippe-Erreger H5N1 gehört, kann die gefürchtete Pandemie unter Menschen auslösen. Das Virus ist kugelrund, sein Durchmesser beträgt nur 0,1 tausendstel Millimeter. In seinem Inneren ist nur Platz für ein paar Proteine und die Erbsubstanz. Diese schmale Ausstattung reicht den Partikeln aber, um sich in lebenden Zellen zu vermehren und sie schwer zu schädigen.

Die Viren gelangen zunächst auf die Schleimhäute der oberen Atemwege. Dann kommt das erste Virenprotein zum Zuge: Die Neuraminidase (N) sitzt wie ein Stachel auf der Virenhülle und bahnt dem Virus einen Weg durch den feinen Schleimfilm auf den Zellen. So gelangt das Virus bis zur Oberfläche der Zelle. Diese zieht das Virus nun in ihr Inneres, wo es sich vermehrt. Nach 10 bis 24 Stunden erscheinen auf der Oberfläche der befallenen Zelle neue Viren. Sie lösen sich ab, und der Prozess beginnt in weiteren Zellen von Neuem. Durch diesen Schneeballeffekt vermehrt sich das Virus rasend schnell.

Dies alles passiert zunächst in den äußersten Zellschichten zum Beispiel des Rachenraums. Von dort gelangen die Viren über die Luftröhre in die Lunge. "Es geht im schlimmsten Fall Stockwerk für Stockwerk tiefer", sagt Virenforscher Klenk. Ein akutes respiratorisches Distress-Syndrom (ARDS) kann wenig später folgen. Bei dieser akuten Entzündung des Lungengewebes verliert das Organ weitgehend seine Fähigkeit zur Sauerstoffaufnahme.

Das größte Problem für die Mediziner ist, dass bei der Vermehrung viele Varianten des Erregers entstehen. Die Schlüsselmoleküle mit den Bezeichnungen H und N sitzen an der Außenseite des Virus und sind ständig den Attacken des menschlichen Immunsystems ausgesetzt. Um den Antikörpern zu entgehen, wandeln sich die Moleküle schnell. Täten sie es nicht, würde das Immunsystem schnell mit ihnen fertig, sie blockieren und damit wirkungslos werden lassen. Durch die schnelle Veränderung der Moleküle muss sich der Körper jedes Jahr mit einem leicht veränderten Virus auseinander setzen, gegen das er nur unzureichend gerüstet ist. So kommt es zu den üblichen Grippeepidemien, und daher muss für jede Grippesaison ein neuer Impfstoff hergestellt werden.

Die Buchstaben H und N dienen den Experten auch zur Benennung der Viren. Es gibt 16 verschiedene H-Typen und 9 Versionen vom Typ N. Klenk geht davon aus, dass in der Natur Viren mit vielen H-N-Kombinationen vorkommen. Die Wirte sind Vögel. Viele Virenvarianten sind so gut an sie angepasst, dass die Vögel problemlos überleben.

Voraussetzung für eine Pandemie wäre, dass sich das Vogelgrippevirus in ein menschliches Virus verwandelt. «Dies könnte dann passieren, wenn sich das Vogelgrippevirus mit einem menschlichen Influenzavirus kreuzt. Dafür müsste zunächst eine menschliche Zelle von beiden Viren befallen werden», erläutert Klenk. In diesem Fall würden sich die Erbanlagen beider Viren vermischen, und es könnte ein neues menschliches Virus entstehen, das aber an seiner Oberfläche einen Teil des Vogelgrippevirus besitzt. Ein solches Virus wäre nach den Worten von Klenk dem menschlichen Immunsystem völlig unbekannt. Menschen wären ihm ohne jeden Schutz ausgeliefert. Vogelgrippeviren könnten sich aber auch ohne Genaustausch in für Menschen sehr gefährliche Erreger verwandeln. "Das war bei der Pandemie 1918 der Fall. Die Viren von 1957 und 1968 entstanden hingegen durch den Austausch menschlicher und tierischer Virusgene."

Eine Weiterentwicklung des Vogelgrippe-Virus ist nach Ansicht eines Infektiologen der Medizinischen Hochschule Hannover relativ schnell möglich. "Die Mutation des Virus ist längst
überfällig", sagte Prof. Matthias Stoll am Donnerstag in Hannover. "Wir warten alle darauf, dass das eintritt." Statistisch gesehen hätte sich das Virus, dass bisher nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden kann, bereits verändern müssen. Bisher jedoch sei die Vogelgrippe aber eine reine Tierseuche.

Für Stoll, der sich bereits seit 1995 mit dem so genannten H5N1-Virus beschäftigt, ist der Erreger äußerst "tückisch". Habe jemand eine normale Grippe und dieses Virus vermische sich mit dem Vogelgrippe-Erreger, "kann ein für den Menschen sehr gefährliches Virus daraus entstehen". Dies sei in der Vergangenheit bereits häufiger geschehen, zum Beispiel beim Hongkong-Virus.

Das aggressive Vogelgrippevirus H5N1 wurde bereits 1997 in Hongkong beobachtet. Der aktuelle Seuchenzug begann Ende 2003. Seitdem hat sich der Erreger vor allem über Südostasien, aber
jetzt auch in Europa verbreitet. In Asien verendeten Millionen Stück Geflügel oder wurden vorsorglich getötet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) registrierte bislang auch rund 170 H5N1-Fälle bei Menschen in Asien, mehr als 90 davon verliefen tödlich. In Europa sind bisher keine Infektionen von Menschen bekannt.

Dezember 2003: Als erstes Land informiert Südkorea am 12. Dezember 2003 die UN-Organisation für Tiergesundheit (OIE) über den Ausbruch einer "hoch pathogenen aviären Influenza". Der bei Geflügel isolierte Erreger stellt sich später als H5N1 heraus.

Januar 2004: Vietnam, Japan, Thailand, Kambodscha und Hongkong melden der OIE Ausbrüche der Vogelgrippe bei Tieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) registriert elf H5N1-Infektionen bei Menschen, acht davon in Vietnam, drei in Thailand. Acht der Infizierten sterben.

Februar 2004: Auch in Indonesien und China wird die Tierseuche registriert. Die Zahl der Fälle bei Menschen in Vietnam und Thailand steigt auf 33, 22 der Patienten sind gestorben.

August 2004: Malaysia meldet als achtes Land einen H5N1-Ausbruch, 48 Hühner in einem Dorf sterben.

Juli 2005: Erste Fälle der Tierseuche treten im asiatischen Teil Russlands auf. Die WHO zählt in Vietnam, Thailand, Kambodscha und Indonesien mittlerweile 109 Fälle bei Menschen, 55 davon sind tödlich verlaufen.

August 2005: H5N1-Ausbrüche werden jetzt auch bei Tieren aus Kasachstan und der Mongolei gemeldet. Die EU verhängt einen Importstopp für Geflügel aus Russland und Kasachstan wie er bereits für neun asiatische Staaten gilt. In Europa wächst die Angst vor einer Übertragung der Tierseuche durch Zugvögel.

September 2005: In Deutschland wird die Freilandhaltung von Geflügel in Teilen von Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern verboten. Hühner, Puten, Enten und Gänse müssen in den Ställen bleiben, um eine mögliche Übertragung durch Zugvögel zu verhindern.

Oktober 2005: In Rumänien, in Kroatien, im europäschen Teil Russlands und im asiatischen Teil der Türkei wird das Virus H5N1 nachgewiesen. In Deutschland und Österreich muss alles Geflügel in Ställen untergebracht werden, damit es sich nicht an Zugvögeln infizieren kann.

November 2005: China räumt die ersten beiden H5N1-Fälle bei Menschen ein, ein Mensch stirbt. Seit Ende 2003 hat die WHO in fünf asiatischen Ländern 133 Infektionen bei Menschen registriert. 68 davon sind tödlich verlaufen.

Dezember 2005: Die Ukraine meldet den Nachweis des aggressiven Erregers bei Tieren an elf Orten auf der Halbinsel Krim.

Januar 2006: Die internationale Staatengemeinschaft sammelt auf einer Konferenz in Peking 1,9 Milliarden US-Dollar (1,6 Milliarden Euro) zur Bekämpfung der Vogelgrippe.

Februar 2006: Die Tierseuche hat Afrika und die Europäische Union erreicht: Zunächst meldet Nigeria am 8. Februar 40 000 tote Tiere auf einem Geflügelhof. Am 11. Februar wird der Fund des Erreger H5N1 bei toten Schwänen in Italien und Griechenland bestätigt. Auch in Bulgarien und Slowenien wird das Virus H5N1 bei toten Schwänen gefunden. Am 13. Februar weist das amtliche österreichische Gesundheitslabor AGES bei zwei in der Steiermark entdeckten toten Schwänen das gefährliche Virus nach. Am 15. Februar informieren die deutschen Behörden die EU-Kommission über den H5N1-Nachweis bei toten Schwänen von der Ostseeinsel Rügen.


dpa