Gutachter im Brokstedt-Prozess sieht Schuldfähigkeit des Angeklagten Von Sönke Möhl, dpa

Im Prozess um tödliche Messerstiche im Regionalzug in Brokstedt geht
es um die Schuldfähigkeit des Angeklagten. Die Erkenntnisse des
psychiatrischen Gutachters könnten großen Einfluss haben.

Itzehoe (dpa) - Der psychiatrische Gutachter im Mordprozess um die
Messerattacke im Regionalzug in Brokstedt hält den Angeklagten für
schuldfähig. Er sehe zwar psychotische Symptome, aber keine Psychose
bei Ibrahim A., sagte Professor Arno Deister am Donnerstag vor dem
Landgericht Itzehoe. Bei dem 34-jährigen Palästinenser liege eine
schwere posttraumatische Belastungsstörung  (PTBS) vor. Die
Bedingungen der Paragrafen 20 und 21 des Strafgesetzbuches für
Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit seien aber nicht
erfüllt. Zwar liege eine seelische Störung vor. Aber: «Ich sehe keine

Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit». Auch liege keine Aufhebung

der Steuerungsfähigkeit vor. Es gehe um eine «ziemlich komplexe
Fragestellung». Das Gutachten des Psychiaters ist wichtig für die
Entscheidung der Großen Strafkammer.  

Der Gutachter sagte, er sehe bei Ibrahim A. bereits zu Beginn der
Haft in Hamburg im Januar 2022 eine PTBS. Ibrahim A. habe den
Unterlagen zufolge Gewalterfahrungen in Gaza gemacht, wo er
aufgewachsen ist. Im Verlauf der Haft entwickelten sich nach Deisters
Angaben psychotische Symptome, die vorher nicht vorhanden waren.
«Diese Symptome können Teile von ganz verschiedenen Krankheiten
sein.»  Es gebe Anhaltspunkte für eine emotionale Abgestumpftheit.
Mit zunehmender Haftdauer habe sich die PTBS weiter entwickelt. Die
Diagnose einer psychotischen Erkrankung könne zum Zeitpunkt der
Entlassung aus der Haft in Hamburg kurz vor der Tat in Brokstedt aber
nicht gestellt werden.

Der Mediziner berichtete ausführlich über drei Gespräche mit dem
Angeklagten, beginnend 14 Tage nach der Tat vom 25. Januar 2023 in
der Justizvollzugsanstalt Neumünster. Der heute 34 Jahre alte
Palästinenser habe im ersten Gespräch gesagt, «ich höre keine
Stimmen». Im zweiten Gespräch zwei Wochen später habe er dann aber
von Klopfgeräuschen in der JVA berichtet. «Die reden mit mir aus der
Heizung» Außerdem habe er gesagt, «die draußen stehen, spucken auf

mich, die haben gesagt, du musst dich umbringen». Der Angeklagte habe
über Drogenkonsum berichtet. Es seien etwa ein Gramm Kokain und ein
halbes Gramm Heroin pro Tag gewesen. Bei einer späteren Sitzung habe
Ibrahim A. dann gesagt, er wolle keine weiteren Gespräche.

Ibrahim A. steht seit Juli 2023 vor Gericht, weil er am 25. Januar
2023 im Regionalzug von Kiel nach Hamburg ein Messer gezogen und auf
Fahrgäste eingestochen hat. Der Angeklagte streitet die Taten nicht
mehr ab. Zu Beginn der Hauptverhandlung hatte er sich noch als
unschuldig bezeichnet. Bei dem Angriff starben zwei junge Menschen,
vier Fahrgäste wurden schwer verletzt.

Im Laufe des Prozesses hatten mehrere Psychiater, die mit Ibrahim A.
in der Untersuchungshaft vor und nach der Tat gesprochen hatten, von
ihrer Verdachtsdiagnose einer Psychose beim Angeklagten berichtet.
Die Staatsanwaltschaft hält den Palästinenser für voll schuldfähig.

Er habe aus Frustration über einen für ihn erfolglosen Termin bei der
Ausländerbehörde in Kiel gehandelt. Die Verteidigung ging dagegen
während des gesamten Prozesses von einer psychischen Erkrankung des
Angeklagten aus und forderte seit Monaten seine Verlegung von der
Untersuchungshaft in eine psychiatrische Klinik.

Ibrahim A. war den Erkenntnissen zufolge 2014 aus dem Gazastreifen
nach Deutschland gekommen und habe zunächst in Nordrhein-Westfalen
gelebt. Später sei er nach Kiel gezogen, weil er am Meer leben
wollte, wie er es aus Gaza gewohnt gewesen sei, zitierte Deister aus
Unterlagen. Ibrahim A. arbeitete unter anderem auf Baustellen und als
Paketbote.

Bislang sind Verhandlungstermine bis zum 15. Mai angesetzt.