Stammzellforschung: Zeit der kleinen Schritte nach dem großen Coup Von Annett Stein, dpa

Organersatz, Verjüngungskur, Krebsheilmittel - potenzielle
Einsatzmöglichkeiten für Stammzellen gibt es viele. Im klinischen
Alltag angekommen ist noch keine Therapie - im kommenden Jahr könnte
es aber entscheidende Ergebnisse für diesen Schritt geben.

Berlin (dpa) - An einer Klinik in Japan fiel in diesem Jahr der
Startschuss: Erstmals weltweit sollen Patienten mit induzierten
pluripotenten Stammzellen (iPS) behandelt werden. Einige an
altersbedingter Makuladegeneration der Augen leidende Menschen
bekommen Retina-Transplantate, die aus Hautzellen herangezüchtet
wurden. «Da erhoffen wir uns 2014 schon erste Ergebnisse», sagt Klaus
Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts im hessischen Langen.
«Das ist ein Türöffner für die Verwendung von ips-Zellen am Mensche
n,
man wird daraus viel lernen.»

Als iPS werden Zellen bezeichnet, die aus Körperzellen in eine Art
embryonalen Zustand zurückversetzt wurden. Wie embryonale Stammzellen
(ES) können sie sich zu jedem Zelltyp entwickeln - ohne ethische
Probleme bei der Herstellung. Der Japaner Shinya Yamanaka hatte für
die 2006 gelungene Rückprogrammierung im vergangenen Jahr den
Medizin-Nobelpreis erhalten. Das Land treibt seither die Ausarbeitung
auf iP-Stammzellen beruhender klinischer Studien massiv voran.

«Die Stammzellforschung ist sehr en vogue», sagt Gustav Steinhoff,
Direktor der Klinik für Herzchirurgie in Rostock. Es gebe aber noch
viele Fragezeichen. «Das Stammzellfeld steht Ende 2013 an einem
kritischen Punkt», resümiert Paul Knoepfler von der Universität
Kalifornien in Davis im Fachmagazin «Stem Cells And Development».
Grundsätzliche Erkenntnisse und neue Ansätze zur klinischen Anwendung
böten großen Auftrieb - der Wildwuchs Heilung versprechender
Stammzelltherapie-Anbieter aber auch große Herausforderungen.

Irreführende oder auch falsche Informationen vor allem im Internet
führen demnach zu oft völlig überhöhten Erwartungen. Diese Erfahrun
g
hat auch Steinhoff gemacht, an dessen Klinik eine Phase-III-Studie
zur kardialen Stammzelltherapie mit Knochenmarkstammzellen läuft.
«Vor dem Aufklärungsgespräch hegen viele Patienten sehr große und o
ft
übersteigerte Hoffnungen.» Es sei sehr wichtig, das zu relativieren.

Große Fortschritte in der Stammzellforschung gebe es aber
durchaus, betont Oliver Brüstle, Direktor des Instituts für
Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn. «Wenn man sich
anschaut, was so passiert ist in nur einem Jahr, dann ist das schon
beeindruckend.»

Für Aufsehen sorgten etwa Forscher, die bis zu vier Millimeter
große Gehirngewebestücke herstellten. Ein Team um Jürgen Knoblich von

der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien hatte die
cerebralen Organoide aus embryonalen Stammzellen wachsen lassen und
darüber in «Nature» berichtet. Einer japanischen Arbeitsgruppe um
Yoshiki Sasai gelang es, ganze Augenanlagen aus embryonalen
Stammzellen zu entwickeln. «Das eröffnet spannende Möglichkeiten, die

frühen Schritte der menschlichen Gehirnentwicklung und auch die
Ursachen von Fehlentwicklungen zu erforschen», sagt Brüstle.

Viel Kritik musste der US-Forscher Shoukhrat Mitalipov für
Darstellungsfehler in einer Studie einstecken. Die Gruppe hatte
erstmals menschliche Klon-Embryonen hergestellt und daraus
Stammzellen gewonnen - mit dem Verfahren, das auch zum Klonschaf
Dolly führte. Solche Stammzellen könnten theoretisch in jede
beliebige Art von Körperzellen transformiert werden und so künftig
einmal kranke oder verletzte Zellen ersetzen.

Die Studie hatte auch für Aufsehen gesorgt, weil ein ähnlicher
Bericht des südkoreanischen Forschers Hwang Woo Suk aus dem Jahr 2004
nach kurzer Zeit als Schwindel aufflog. «Das was von Mitalipov
publiziert wurde, ist keine Fiktion, das hat Hand und Fuß», sagt Hans
Schöler, Direktor der Abteilung Zell- und Entwicklungsbiologie am
Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster.

Herausforderungen gibt es für die Forscher weiter genug. «Es ist
nicht so, dass nun keine weiteren großen Durchbrüche zu erwarten
sind», betont Brüstle. «Die Kernfrage ist noch immer: Haben wir die
richtigen humanen pluripotenten Stammzellen schon gefunden?» Ein
zentrales Ziel der Forschung werde es im kommenden Jahr sein, die
direkte Umprogrammierung von Zellen weiter zu vereinfachen und noch
unreifere pluripotente Zellen zu schaffen.

Ein sehr aktives Feld sei das der Krankheitsmodelle. «Da gibt es
quasi wöchentlich gute Publikationen», sagt Brüstle. Auch das
Interesse der Industrie wachse. Das zeige zum Beispiel die EU-weite
Innovative Medicines Initiative (IMI), die Banken mit Hunderten
Patienten-spezifischen Zelllinien aufbauen will. «Das könnte eine
richtungsweisende Entwicklung sein», glaubt auch Jürgen Hescheler,
Direktor am Institut für Neurophysiologie der Universität Köln. Bei
der Industrialisierung von Verfahren passiere ebenfalls viel.

«Wir haben in NRW zum Beispiel die StemCellFactory, die eine
vollautomatisierte Produktionsstraße für iPS und neurale Zellen
werden soll», sagt Brüstle. «Wenn man ein Auto am Fließband
produzieren kann, warum nicht auch eine Nervenzelle?» Eher auf
Forschungsebene werde es vorerst mit der in-situ-Konversion
weitergehen, also damit, Zellen im lebenden Organismen von einem
Zelltyp in einen anderen umzuwandeln.

«Die erste wirklich wichtige Anwendung in der Praxis werden
Screening-Modelle sein», ist Hescheler überzeugt. Mit embryonalen
oder iPS-Zellen wird dabei die schädliche Wirkung von Medikamenten,
Umweltgiften oder auch Kosmetika getestet. «Das hat zwei Vorteile: Es
gibt keine Tierversuche mehr und man testet Substanzen ohnehin besser
an menschlichen Zellen.» Einige Unternehmen arbeiteten bereits mit
solchen Stammzell-Tests. «In der Summe ist mein Gefühl: Wir haben die
Kugel jetzt lange den Berg hochgeschoben, nun fehlen noch die letzten
Anstrengungen, um sie richtig ins Rollen zu bekommen.»