Organspende ja oder nein - Entscheidungen nach dem großen Skandal Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Vom 1. November an werden Krankenkassen Info-Briefe über Organspende
verschicken - weil es viel zu wenige Spender gibt. Das platzt mitten
in die Ermittlungen zum größten Organspende-Skandal in Deutschland.
Was fühlen Ärzte und Patienten dabei? Eine Reise durch Berlin.

Berlin (dpa) - Barbara Gebings Lebensretter ist so groß wie ein
altes Faxgerät. Nachts brummt die weiße, kastenförmige Maschine und
erledigt monoton ihre Arbeit. Im Schlaf. Dialyse, acht Stunden lang,
zu Hause auf dem Hochbett. Jeden Abend balanciert Barbara Gebing zwei
massige fünf-Liter-Plastikbeutel für die Blutwäsche die schmale
Holztreppe auf die Empore ihrer Berliner Altbauwohnung, manchmal
hilft Tochter Lara bei der Schlepperei. Lara ist 13.

Barbara Gebing ist 41, alleinerziehend. Vor drei Jahren begannen
ihre beiden Nieren zu versagen. Wenn es keine Organspende gäbe,
blieben ihr mit dieser Maschine vielleicht noch sechs Jahre Leben.
Doch ihre Kräfte würden nachlassen. Es ginge bergab, Stufe für Stufe,

wie die Treppen des Hochbetts, über die sie die benutzten
Blutwäsche-Beutel am Morgen wieder herunterträgt. Sie könnte nicht
mehr für das Bezirksamt arbeiten, nicht mehr für ihr Kind sorgen.

Barbara Gebing hat immer gewusst, dass es einmal so kommen wird.
Es passiert meist zwischen 40 und 50, wenn seit der Geburt Zysten auf
den Nieren sitzen, kleine Zellknubbel, die man nicht wegoperieren
kann. «Früher habe ich gedacht, wenn ich an die Dialyse muss, bringe
ich mich um», sagt sie. Nun hat Barbara Gebing einen OP-Termin. Am
30. Oktober setzen Ärzte ihr eine neue Niere ein. Ein Spenderorgan.

Vom 1. November an werden viele Bundesbürger Post von ihrer
Krankenkasse bekommen. Ein Schreiben, das über Organspende aufklärt.
Es ist Teil des neuen Transplantationsgesetzes, ein Denkanstoß. Es
ist der Minimalkonsens, auf den sich die Politik nach langem Ringen
geeinigt hat, weil es viel zu wenig Spenderorgane in Deutschland
gibt. 12 000 Menschen warten darauf. Viele sterben, bevor sie eine
neue Niere, Leber oder ein neues Herz bekommen.

Wer diesen Brief von der Krankenkasse bekommt, soll sich
entscheiden. Organspende - ja oder nein. Die Neuerung soll eine
fatale Lücke im Verhalten der Deutschen schließen: Viele haben in
Umfragen nichts gegen Organspende. Aber sie füllen keinen
Spenderausweis aus, orange-blau, nur etwas größer als eine Bankkarte.

Das war schon vor dem Organspende-Skandal an den Uni-Kliniken von
Göttingen und Regensburg so. Seit Juli beschäftigen diese Fälle die
Justiz, auch eine Münchner Klinik steht inzwischen unter Verdacht.
Transplantationsärzte, so die Vermutungen, haben ihre Patienten auf
dem Papier bewusst kränker gemacht als sie waren - damit sie früher
eine Spenderleber bekommen.

Die fetten Schlagzeilen, die Aufklärungsversuche, die politischen
Organ-Gipfel und neue Kontrollmaßnahmen - sie alle überschatten ein
Grundproblem. Es gibt eine Gesellschaft, die sich mit der
Transplantationsmedizin und ihren enormen Fortschritten in den
vergangen 60 Jahren wenig beschäftigt. Denn das Ausfüllen eines
Spenderausweises rührt zwangsläufig an etwas anderem: dem Nachdenken
über den Tod. Ein Tabu-Thema, das oft verdrängt wird, bis es sich mit
aller Macht ins Leben drängt. Wenn Gefühle wie Sorge und Trauer
überwiegen, ist es für eine rationale Auseinandersetzung mit
Organspende meist zu spät - der Mensch ist keine Maschine.

Barbara Gebing ist das alles nicht fremd. Sie gibt unumwunden zu,
dass sie den Gedanken an Nierenversagen trotz des Wissens um ihre
Zysten 35 Jahre lang verdrängte. Für sie brach eine Welt zusammen,
als ihr Arzt 2007 sagte, es sei jetzt bald soweit. Wie sollte das
gehen? Dreimal in der Woche für fünf Stunden in ein Dialysezentrum?
Mit Job und Kind? Dass eine spezielle Bauchfell-Blutwäsche auch zu
Hause möglich ist, erfuhr sie erst später. Dass diese Methode meist
nur zehn Jahre lang gut geht, erfuhr sie auch.

Barbara Gebing hat Familie und Freunde schon vor dem großen
Skandal auf Organspende-Ausweise angesprochen. Sie ist an abweisende
Reaktionen gewöhnt, nun ist der Ton noch schärfer: «Ich geb' doch
nichts von mir her.» - «Wer weiß, ob ich schon tot bin.» - «Die
wollen meine Organe doch nur verkaufen.» - «Sieht man doch in
Göttingen, was die damit machen.» Gebing argumentiert anders. Sie
wirbt nicht für Organspende. Sie will eine Entscheidung. Egal, ob
dafür oder dagegen, aber gut überlegt und fixiert auf einem Ausweis.

Wie sachlich solche Diskussionen fern von Krankenbetten laufen
können, zeigt sich an einem schönen Herbstmorgen in Berlin. Es ist
Sonntag, doch der große Hörsaal im Charité-Bettenhochhaus ist gut
besetzt. Transplantationsarzt Andreas Pascher schildert ruhig, vor
welchen Problemen seine Zunft inzwischen steht. «Wir akzeptieren
Organe von immer älteren Spendern», sagt er. «Wir gehen in die
Extreme, bis hin zu 85-Jährigen.» Und nun auch noch dieser Skandal,
der das Vertrauen in das ganze Organspende-System erschüttere.

Für Pascher gibt es nur zwei Wege aus der Misere: «Die Transparenz
muss in den Vordergrund», sagt er. «Und wir müssen die Bevölkerung

fragen. Wir können nur erfolgreich sein, wenn es ein
gesellschaftliches Bekenntnis zur Organspende gibt.» Denn
Alternativen gebe es nicht, auf ganz lange Sicht nicht. Die Berliner
fragen Pascher nach seinem Vortrag Löcher in den Bauch. Wo kommen die
Organe her? Wer bestimmt die Dringlichkeit bei einer Transplantation?
Können Angehörige widersprechen? Die Fragen hören nicht mehr auf. Es

gibt wohl wirklich so etwas wie ein Wissens-Defizit.

Vielleicht muss man für dieses Wissen ganz an den Anfang gehen.
Ins Berliner Vivantes-Klinikum am Friedrichshain zum Beispiel, zum
Neurochirurgen Dag Moskopp. Er nimmt sich Zeit für die Fragen nach
Leben und Tod. Es gehört zu seinem Beruf. Ärzte wie er urteilen
darüber, ob ein Mensch tot ist, hirntot. Was das überhaupt bedeutet.
Und, was das für die Organspende bedeutet.

Rund 400 Mal hat Moskopp bisher den Hirntod eines Menschen
festgestellt. Wenn das Gehirn nicht mehr durchblutet werde, ein
Patient nicht mehr eigenständig atme und alle wichtigen Reflexe
ausblieben - dann seien die Kriterien erfüllt, sagt der Professor.
Die Persönlichkeit, das Ich, sie erlöschen. So traurig das auch ist,
zum Hirntod gibt es noch etwas zu sagen: Der Zustand, in dem der
Körper auf einer Intensivstation durch Maschinen am Leben gehalten
wird, aber der Geist schon tot ist - dieser Zustand ist die einzige
Möglichkeit, um lebenswichtige Organe für eine aussichtsreiche
Transplantation zu entnehmen.

«Niemand hat einen direkten Zugang zum Begriff Tod», sagt Dag
Moskopp. «Genauso wenig wie zum Begriff Leben oder Liebe.» Aber es
gebe Zeichen. Und die Hirntod-Zeichen seien die sichersten, um auf
den Tod rückzuschließen. Der Neurochirurg weiß, wie schwer das alles

für Angehörige in einer Trauersituation zu fassen ist. Er umschreibt
die Intensivstation wie eine Brücke, wie künstlich geliehenes Leben.
Manchmal schafften schwer verletzte Patienten es von dieser Brücke
langsam ans andere Ufer, zurück ins Leben. «Aber bei einigen führt
sie ins Nichts», sagt Moskopp. Zuerst wie in einen Nebel. Und dann
breche sie ab. «Von dort kommt niemand mehr zurück.»

Nur selten komme es vor, dass Angehörige das Thema Organspende auf
einer Intensivstation von sich aus ansprechen, sagt Alfred Holzgreve,
Transplantationsbeauftragter der Berliner Vivantes-Kliniken. Wenn es
keinen Spenderausweis gibt, gehen Mitarbeiter auf die Familie zu.
Aber in der Regel entscheiden sich Angehörige in dieser
Ausnahme-Situation gegen eine Organentnahme. Es ist wie ein
Schutzreflex - für sich selbst und den Hirntoten. Holzgreve hat
früher selbst Nieren transplantiert. «Wenn die Leute sehen würden,
wie todkranke Patienten mit einem neuen Organ plötzlich wieder gut
leben können. Das wäre so motivierend», sagt er.

Dag Moskopp treibt mit Blick auf den Organspende-Skandal noch
etwas anderes um. Es sei dieser Paradigmenwechsel im deutschen
Gesundheitswesen seit den 1990er Jahren. «Dieses Ökonomieprinzip»,
sagt er. «Man wird geradezu dazu verführt, zu denken, dass nur noch
das Gewinnträchtige zählt.» Er könne sich nicht vorstellen, dass da

in Göttingen ein Einzelner am Rädchen gedreht habe. Transplantationen
brächten Geld, noch mehr Transplantationen noch mehr Geld.

Barbara Gebings private Organspende-Kampagne hat ihr ein Geschenk
beschert, mit dem sie nicht gerechnet hat. Ein naher Angehöriger
füllte keinen Organspendeausweis aus. Aber er bot ihr eine seiner
gesunden Nieren für eine Transplantation an - als Lebendspender.
Damit sie nicht auf die lange Warteliste angewiesen ist und von der
Dialyse loskommt, ehe es abwärts geht. Reden möchte er darüber nicht.


Barbara Gebing wird dieses besondere Geschenk annehmen. Sie ist
dafür einen steinigen Weg gegangen. Beim ersten Gesundheitscheck für
die Transplantation vor drei Jahren entdeckten Ärzte bei ihr nicht
nur Schilddrüsenkrebs, sondern auch noch ein Aneurysma im Gehirn -
eine geschwollene Ader, die jederzeit platzen konnte. «Ich habe für
einen Moment überlegt, ob ich aufgebe», erinnert sie sich.

Statt Aufgeben hat sie dann an Aufgabe gedacht. An die Aufgabe, zu
überleben, auch für ihre Tochter. Heute, nach gelungener
Schilddrüsen- und einer Aneurysma-OP, die Dag Moskopp ausführte,
sieht sie sich als Glückskind. «Vielleicht wäre das alles ohne die
Nieren gar nicht aufgefallen. Und ich wäre inzwischen an Krebs
gestorben und würde gar nicht mehr hier sitzen.»

Ihr Optimismus ist ungebrochen: «Ich habe 37 gesunde Jahre gehabt.
Und ich kann nach der Transplantation noch einmal mehr als 25 davon
haben.» Weil ein anderer Mensch eine Entscheidung getroffen hat.