«Jesus, das Herz schlägt» - Der schwere Weg zur Organtransplantation Von Michael Donhauser, dpa
Münster (dpa) - Anna G. kann kaum noch laufen. Nur ein paar
Schritte sind möglich, bevor die Erschöpfung sie wieder packt.
Quälende Monate im Krankenhaus, nicht einmal das Essen funktioniert
noch - sie muss künstlich ernährt werden. Eine tückische
Zellkrankheit hat ihre Leber befallen, die Ärzte nennen es
Amyloidose. Die Symptome sind ähnlich wie bei der Multiplen Sklerose:
Zunächst werden die Nerven befallen. Jahrelang merkte Anna G. gar
nichts von ihrer Krankheit, dann gab sie den Medizinern Rätsel auf,
und es dauerte, bis endlich Klarheit herrschte. Wenn die 50-Jährige
nicht schnell eine neue Leber bekommt, wird sie sterben. Auch das
Herz ist von der Krankheit befallen. Die Herzwände sind so dick, dass
es nicht mehr richtig pumpen kann.
Die Emsländerin wartet wie rund 12 000 andere Patienten in
Deutschland auf eine Organspende. Aber nur einem Drittel von ihnen
wird dieses Glück zuteil. Jeden Tag sterben drei Menschen auf der
Warteliste, weil es in Deutschland nicht genügend Spender gibt. So
konnten im ersten Halbjahr 2008 Organe von 586 Menschen entnommen
werden, 81 Spender weniger als ein Jahr zuvor. Nur 14 Prozent der
Deutschen haben einen Spenderausweis. Dabei würden 80 Prozent der
Deutschen ein Organ annehmen, wenn es medizinisch für sie selbst
notwendig wäre. «Das ist eine Doppelmoral», sagt dazu der Präsident
der Ärztekammer-Westfalen-Lippe, Theodor Windhorst.
Professor Tonny D. Tjan hat im Moment andere Sorgen. Der Chirurg
steht mitten in der Nacht im Operationssaal Nummer 10 des
Universitätsklinikums Münster. Denn Anna G. hat Glück gehabt: Sie
liegt vor ihm auf dem Operationstisch. Ihr Kopf ist kaum sichtbar vor
lauter Kabel und Schläuchen, die ihr die Anästhesisten angelegt
haben. Ihr Körper ist mit einer OP-Folie beklebt, grüne Tücher
umranden ihren Brustkorb. Kanülen dringen in verschiedene Stellen
ihrer Haut ein.
Die Atmosphäre ist kühl und sachlich, steril im Wortsinn. Die
Einrichtung ist spartanisch, kein Hocker zu viel, kein unnützer
Ballast, die absolute Konzentration aufs Wesentliche. Fein säuberlich
liegt das OP-Besteck auf einem Tisch, kaum einer spricht, jeder
Handgriff zeugt von der Routine hunderter Eingriffe am offenen
Herzen. Tjan gilt als einer der profiliertesten Operateure am
Universitätsklinikum, hat zig Herztransplantationen hinter sich. Der
Maschinenpark wirkt wie in einem kleinen Raumschiff. Überall
Monitore, Kabel, Drehknöpfe und grün gekleidete Menschen mit
Mundschutz und Haarhaube, die sie bedienen.
Im Zentrum der Tücher hat Tjan mit seinem Kollegen, Oberarzt
Heinrich Rotering, unter dem gleißenden Licht der OP-Lampe gerade den
Brustkorb von Anna G. geöffnet. Rhythmisch pumpt das Herz Blut in den
Kreislauf, regelmäßig zuckt der rechte Vorhof. «Auf den ersten Blick
ist nicht zu erkennen, dass das Herz nicht mehr richtig
funktioniert», sagt Narkosearzt René Waurick. Es sind die letzten
Dienstminuten des kranken Muskels, an dem das Leben von Anna G. 50
Jahre lang hing. Bald wird er nur noch die Pathologen interessieren.
Zwei Stunden bereiten Tjan und Rotering die eigentliche Operation
vor. Dann müssen sie erst einmal warten. «Wir können das Herz nicht
entnehmen, bevor das neue nicht im OP-Saal ist», sagt Tjan. Seine
Worte vermitteln eine vage Ahnung, welch fatale Folgen ein Missgriff
am OP-Tisch haben könnte. Minuten später öffnet sich die Edelstahl-
Schwingtür des Saales. Oberarzt Andreas Löher, eine blauen Plastik-
Kühlbox in der Hand, wirft ein freundliches «Hallo zusammen» in die
Runde. In der Box liegt in einer Speziallösung und auf Eis das Organ,
das für Anna G. die Hoffnung auf ein neues Leben birgt. Gelb und Rot
schimmert das Herz, fast wie ein Demonstrationsobjekt aus Plastik.
Löher verschwendet keine Minute. Die Zeit, in der das Herz nicht
mit einem Körper verbunden ist, soll möglichst kurz sein. Maximal
vier bis sechs Stunden. Schwestern und Pfleger helfen ihm in den
sterilen Mantel, der Arzt nimmt das Organ aus der Kühlung und
präpariert es in einer Edelstahl-Eiswanne für die Transplantation.
Tjan und Rotering sind inzwischen längst dabei, mit dem Skalpell das
alte Organ aus dem Körper von Anna G. zu trennen.
Ein paar hundert Kilometer von Münster entfernt, im Südwesten
Deutschlands, war kurz zuvor ein Mensch gestorben, der seine
Bereitschaft signalisiert hatte, mit seinen Organen anderen helfen zu
wollen. Dies ist der Moment, der ein kompliziertes Räderwerk in Gang
setzt: Eurotransplant, die zentrale Organ-Verteilstelle für einige
europäische Länder mit Sitz im niederländischen Leiden, wird
informiert. Die Experten dort gleichen die Informationen des
Organspenders mit denen auf ihrer Warteliste ab. Und stoßen in diesem
Fall auf den Namen von Anna G. Die Ärzte in Münster erhalten grünes
Licht. Ein Chirurgenteam macht sich auf den Weg zum Spender, entnimmt
das Herz, und Oberarzt Löher fliegt mit dem Organ in der Kühltasche
zurück nach Münster.
Anna G. liegt inzwischen mit leerem Brustkorb auf dem OP-Tisch.
Die Situation hat etwas Unwirkliches. Metallspangen spreizen des
Gewebe und schaffen so Platz für die Operateure. Selbst der erfahrene
Anästhesist Waurick gibt zu: «Das ist immer wieder ein
beeindruckender Anblick.» Vorsichtig legen die Herzchirurgen Tjan und
Rotering das neue Herz in den Brustkorb von Anna G.. Eine Herz-
Lungen-Maschine hat vorübergehend ihre Körperfunktionen übernommen.
An sechs Punkten muss das Organ nun angenäht werden. Die
Herausforderung an die Ärzte ist es, die Gefäße blutdicht zu
vernähen. Immer wieder zieht Tjan den dunklen Faden durch die
Gefäßwand, Stich für Stich setzt er in das weiche Gewebe. Eine
Geduldsarbeit mit Verpflichtung zur Hochpräzision.
Zwei Stunden später kommt der große Moment: Eine OP-Schwester
reicht Tjan eine Elektrozange, wortlos legt der Chirurg die beiden
Löffel am eingepflanzten Herzmuskel an. Ein kurzer Stromstoß. Das
Herz zuckt, es zuckt erneut. Aus dem Zucken wird ein rhythmisches
Schlagen. «Jesus, das Herz schlägt» soll Prof. Christiaan Barnard
gesagt haben, als er 1967 in Kapstadt die erste Herztransplantation
vorgenommen hat, entfährt es Tjan ausgerechnet in diesem Moment. Kein
Jubel, keine geballte Faust im OP-Handschuh - nüchtern und sachlich
beendet der Chirurg sein Werk.
Die Anästhesisten übernehmen wieder die Überwachung. Professor
Tjan hat seine Arbeit zwar beendet. Doch für Anna G. ist der
Operationsmarathon jedoch noch lange nicht zu Ende. Um Mitternacht
hatte sie ihre Narkose erhalten. Neun Stunden später ist die Herz-OP
beendet. Eine weitere Stunde später muss das neu eingepflanzte Organ
schon den ersten Belastungstest im Körper der 50-Jährigen bestehen.
Denn jetzt rückt das Team von Prof. Norbert Senninger in den
Operationssaal ein - mit im Gepäck: Eine neue Leber für Anna G.. Mit
einem elektrischen Skalpell öffnet Senninger die Bauchdecke und folgt
dabei einem vorher aufgezeichneten Schema. Dreieinhalb Stunden
brauchen er und seine Kollegen dann, um das neue Organ zu verpflanzen
- das ist sehr schnell. Die Transplantation der Leber ist nämlich der
eigentlich schwierigere Eingriff. Die Gefäße sind kleiner als beim
Herzen und der im Bauchraum ist komplizierter als der im Brustkorb.
«Man kann noch mehr falsch machen», sagt Senninger. Auch für die
Narkoseärzte ist die zweite OP die große Herausforderung. Wird das
frisch verpflanzte Herz die Last des Eingriffs stemmen können? Sie
machen ihren Job gut, die Operation ist geglückt.
Die Mediziner haben alles ihnen mögliche getan. Die Logistik hat
funktioniert, das Räderwerk hat ineinandergegriffen. Mindestens 40
Menschen waren an der Operation beteiligt: Chirurgen, Internisten,
Anästhesisten, Kardiologen, Schwestern, Pfleger, Kardiotechniker an
der Herz-Lungen-Maschine und andere Helfer. Im Falle Anna G. hat
alles geklappt. Drei Wochen nach dem Eingriff liegt sie noch auf der
Intensivstation, doch die Organe funktionieren. «Aber psychisch ist
die Patientin noch sehr labil», sagt Prof. Hartmut Schmidt,
Transplantationshepatologe und Koordinator der Verpflanzung.
Nach dem Aufwachen aus der Narkose begann für Anna G. eine neue
Zeitrechnung. Sie hat zwei neue Organe, zentrale Teile eines fremden
Menschen, im Körper. Wie wirkt sich das auf ihre Psyche aus? Und wird
sie damit zurecht kommen, dass sie lebenslang starke Medikamente
nehmen muss, um die Abstoßungsreaktionen ihres Körpers im Zaum zu
halten? Wird sie Geduld haben, Körper und Geist genug Zeit geben, die
neuen Organe zu akzeptieren? Ein Team von Ärzten und vor allem
Psychotherapeuten steht ihr in den nächsten Monaten zur Seite.
Die Operateure quält ein anderes Problem: Zu wenige Menschen sind
hierzulande bereit, einen Spenderausweis zu unterschreiben und ihre
Organe im Falle ihres Hirntodes zur Verfügung zu stellen. Deshalb
fordern Ärzte wie Operateur Norbert Senninger und Kammerpräsident
Theodor Windhorst eine gesetzliche Neuregelung. Nach diesen
Vorschlägen, die auch der Deutsche Ethikrat unterstützt, soll jeder
automatisch Organspender sein. Bei dieser sogenannten
Widerspruchslösung, die auch in anderen europäischen Ländern wie
Spanien und Österreich gilt, muss man zu Lebzeiten schriftlich
widersprechen, wenn man eine Entnahme ablehnt. Auch die Angehörigen
haben ein Vetorecht.
In Deutschland gilt dagegen eine Zustimmungslösung - hier muss
jeder zu Lebzeiten - zum Beispiel per Organspendeausweis - sein
ausdrückliches Einverständnis zur Organentnahme nach einem etwaigen
Hirntod geben. Tut er es nicht, müssen die Angehörigen für ihn
entscheiden. «Eine schlimme Situation, im emotionalsten Moment, den
man sich vorstellen kann», beschreibt Windhorst die Lage der Ärzte.
Der Organ-Mangel in Deutschland ist derzeit sogar so groß, dass
die Mediziner zu Lösungen greifen müssen, die für den Laien bizarr
anmuten. Die kranke Leber von Anna G. beispielsweise ist noch lange
kein Fall für die Pathologie. Die Ärzte um Prof. Senninger wissen:
Wenn das Organ in einem anderen Körper arbeitet, wird die
Stoffwechselerkrankung Amyloidose, unter der Anna G. litt, erst in
frühestens 20 Jahren wieder auftreten. Sie soll deshalb einem Mann
mit schwerer Leberzirrhose und Tumorbildung helfen, dessen
Lebenserwartung bei weniger als 20 Jahren liegt. Eurotransplant sagt:
Das passt. Er erhält die Leber von Anna G. noch am gleichen Tag, an
dem auch Anna G. operiert wurde. Auch dieser Eingriff gelingt.
Innerhalb weniger Tage verpflanzen die Chirurgen der Uni-Klinik
Münster sieben Lebern, zwei Herzen und acht Nieren. Ein Rekord für
das Klinikum, das als eines von 41 Häusern in Deutschland
Organtransplantationen vornimmt. Zu solch hochkomplexen Eingriffen
wie bei Anna G. ist gerade mal eine Hand voll Kliniken bundesweit in
der Lage. Sie schaffen für ihre Patienten oft ein neues, aber auch
ein komplett anderes Leben. «15 geschenkte Jahre», sagt etwa Angelika
Breuer über die Zeit seit ihrer Herztransplantation 1993. «Ich hüte
mein neues Herz wie einen Augapfel.»
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