«Ein Kampf jeden Tag» - Zeugen nach Magdeburg-Anschlag Von Dörthe Hein, dpa

Schmerzen, Angst und Folgen für die Familienplanung: Vor Gericht
berichten die Opfer, wie die Todesfahrt ihr Leben verändert hat.

Magdeburg (dpa/sa) - Sie leiden unter den körperlichen und
psychischen Folgen: Wie sehr der Anschlag auf dem Magdeburger
Weihnachtsmarkt ihr Leben und das ihrer Familien verändert hat, haben
mehrere Betroffene vor Gericht geschildert. Dieser Abend spiele sich
seit elf Monaten immer wieder, jeden Tag, in ihrem Kopf ab und
bestimme ihr Leben, sagte eine 40-Jährige, die an dem Abend ihre
Mutter und Großmutter ihrer Kinder verlor. Sie sei nach wie vor
krankgeschrieben, könne nicht mehr als Erzieherin an ihrer
Grundschule mit 300 Kindern arbeiten. «Die Geräusche und die
Menschenmengen - das geht nicht.» Sie habe sich weitgehend nach Hause
zurückgezogen.

Den 20. Dezember 2024 verbrachte sie mit ihrer Familie auf dem
Weihnachtsmarkt, ihre Mutter habe alle eingeladen. Es gab
Schmalzkuchen, Zuckerwatte, die Kinder fuhren Karussell. Sie habe ein
Statusbild bei WhatsApp hochgeladen, weil es so schön war - kurz
bevor sich alles änderte. Ganz helle Lichter habe sie durchschimmern
sehen durch die Menschenmenge. Da sei alles schon zu spät gewesen.
«Ich bin durch die Luft geflogen.» Ohne Gedanken an Schmerzen sei sie
sofort auf die Suche nach den Kindern gegangen, fand sie scheinbar.
Panisch und verängstigt hätten diese sie angeschaut. Deren
Großmutter, ihre Mutter, erlag ihren Verletzungen.

«Es ist immer noch einen Kampf jeden Tag»

Feste und Feiern gehören bei der 40-jährigen Erzieherin der
Vergangenheit an, berichtete sie. Auch ihre Töchter lebten nicht das
Leben, das es ohne den Anschlag gewesen wäre. Sie hätten Angst, seien
schreckhaft. Musikunterricht gehe nur online. Sie fasste es so
zusammen: «Es ist immer noch einen Kampf jeden Tag».

Kein Baby mehr auf dem natürlichen Weg

Eine 38 Jahre alte Industriekauffrau berichtete von zahlreichen
Brüchen unter anderem im Beckenbereich, die sie durch den Aufprall
erlitten habe. «Ich hatte tierische Schmerzen.» Ihr Freund habe sie
lange zu Hause gepflegt, ein halbes Jahr habe sie für eine Reha
gekämpft. Psychische und körperliche Folgen begleiteten sie bis heute
und ihr Becken sei so verschoben, «dass mir die Möglichkeit genommen
wurde, ein Kind auf natürlichem Weg zu gebären».

Die Opfer sollen gehört werden, nicht nur der Täter

Die 38-Jährige gehört zu den Betroffenen, die freiwillig als Zeugen
vor Gericht aussagen. «Ich finde es wichtig, dass die Opfer gehört
werden und nicht nur der Täter.» Die Verfahrensbeteiligten haben sich
darauf verständigt, dass Betroffene nicht aussagen müssen, wenn sie
nicht wollen. So sollen sie nicht zusätzlich belastet werden. Im
sogenannten Selbstleseverfahren werden die Aussagen in den Prozess
eingeführt, die die Zeugen bei der Polizei gemacht hatten. Es handelt
sich um etwa 2.800 Seiten. Der Vorsitzende Richter, Dirk Sternberg,
versichert: «Wir lesen das komplett. Das ist so vorgeschrieben. Das
wird auch so gemacht.»

«Wir wollen nicht, dass der Täter gewonnen hat»

Die 38-Jährige sagte, sie wolle wieder auf Weihnachtsmärkte gehen,
sie habe es zunächst mit einem kleinen, eingezäunten versucht. «Wir
wollen nicht, dass der Täter gewonnen hat», betonte sie. Der
angeklagte 51-jährige Taleb al-Abdulmohsen aus Saudi-Arabien war am
20. Dezember 2024 mit einem Mietwagen mit bis zu 48 Kilometern pro
Stunde durch die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt gefahren. Ein
neunjähriger Junge sowie fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren
kamen ums Leben. Mehr als 300 weitere Menschen wurden verletzt.

«Finde unmöglich, wie sich der Angeklagte die Bühne nimmt»

Eine 57-Jährige sagte, sie habe erst gar nicht als Zeugin vor Gericht
erscheinen wollen. «Ich habe mich dann aber dafür entschieden, weil
ich es unmöglich finde, wie sich der Angeklagte hier die Bühne
nimmt.» Sie bezog sich auf wiederholte Aussagen des Angeklagten, er
habe saudischen Frauen helfen wollen, deutsche Behörden hätten
versagt. Sie fragte: «Bin ich weniger wert als die saudischen
Frauen?» 

Der Angeklagte versucht weiterhin, sich immer wieder zu Wort zu
melden. Der Vorsitzende Richter Sternberg wies ihn mehrmals auf die
Verabredung hin, dass er sich nicht direkt an die Opfer wendet, auch
nicht mit Entschuldigungen.

Die 57-Jährige berichtete, dass sie das große schwarze Auto noch sah,
den Aufprall mit dem Kopf spürte und dann das Bewusstsein verlor.
Mehrere Meter von ihrem ursprünglichen Standort entfernt sei sie
später aufgewacht. «Es war das reinste Chaos um mich rum.» Die
Zeuginnen betonten zugleich, wie viel Hilfe es sofort gegeben habe.
«Die Hilfe war echt extrem groß.»

Fachschwester für Anästhesie berichtet, wie sie half

Eine Fachschwester für Anästhesie und Intensivmedizin, die an dem
Abend mit Kollegen den Weihnachtsmarkt besuchte, sagte: «Wir sehen
viel auf Arbeit, aber das Bild war verheerend.» Sie habe sich mit
ihren Kollegen sofort organisiert zu Zweierteams - allerdings hätten
sie zunächst keinerlei Material gehabt. «Für mein Empfinden hat es
ewig gedauert, bis wir loslegen konnten.» Sie und ihre Kollegen
versorgten die Verletzten, legten Zugänge und beatmeten Patienten.
Die 58-Jährige sagte, sie nutze noch heute eine
psychotraumatologische Behandlung. Insbesondere rosafarbene Flexülen
und spezielle Verletzungsmuster weckten bei ihr immer noch
Erinnerungen. Der Vorsitzende Richter Sternberg drückte der
Fachschwester seinen Respekt aus.

Der Prozess wird am Mittwoch und Donnerstag mit weiteren
Zeugenaussagen Betroffener fortgesetzt.

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