Notstand in den Kinderkliniken: Warum freie Betten oft Mangelware sind Mia Bucher, dpa

In Deutschland gibt es immer mehr Kinder mit chronischen Krankheiten.
Doch den Kliniken mangelt es an Geld und Personal. Täglich müssen
Ärzte deswegen teils schwierige Entscheidungen treffen.

Berlin (dpa) - Jeden Tag aufs Neue müssen Ursula Felderhoff-Müser und
ihr Team entscheiden, wie viele Kinder sicher in ihrer Kinderklinik
versorgt werden können. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass es
für jedes kranke Kind am Universitätsklinikum Essen auch ein freies
Bett gibt. «Wir haben große Probleme, alle Kinder unterzubekommen»,
sagt Felderhoff-Müser, die die Kinderklinik I in Essen leitet, zur
aktuellen Situation Ende Februar. Zur Klinik gehören die Bereiche
Früh- und Neugeborenenmedizin, Kinderintensivmedizin und
Kinderneurologie. 

«Wir in den Kinderkliniken tun alles dafür, dass Kinder nicht
gefährdet werden. Wir weisen keine kranken Kinder ohne eine
Erstversorgung ab», sagt die Kinderärztin. Wegen des Bettenmangels
komme es aber durchaus vor, dass Kinder für die weitere Behandlung in
ein anderes Krankenhaus geschickt werden müssen - das durchaus weiter
weg liegen kann. Dabei ist wichtig zu verstehen: Bettenmangel
bedeutet nicht unbedingt, dass in der Klinik nicht ausreichend Betten
stehen, sondern auch, dass es nicht genügend Personal für die
Betreuung der Betten gibt.

Fachkräftemangel gefährdet die Versorgung

Die Situation an der Kinderklinik I in Essen ist bei Weitem kein
Einzelfall. Eine Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung
für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) im Februar ergab, dass am
Stichtag der Befragung nur 65 Prozent der Intensivbetten für Kinder
in Betrieb waren. Für die Umfrage seien 145 Kinderintensivstationen
angeschrieben worden, von denen 91 antworteten. Grund für die
Engpässe bei der Versorgung von kritisch kranken Kindern seien der
«eklatante Pflegemangel» und «akute Krankheitsausfälle».  Dem
Geschäftsführer der Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser
und Kinderabteilungen in Deutschland (GKIND), Bernhard Hoch, gibt es
deswegen immer häufiger Wackelkandidaten. Damit meint er Kinder, die
aus Kapazitätsgründen vorerst zu Hause weiter versorgt werden.

Überall in Deutschland fehlen Fachkräfte. Doch in kaum einem Bereich
ist der Mangel so groß wie in der Pflege. Angaben der Bundesagentur
für Arbeit zufolge blieben freie Krankenpflegestellen vergangenes
Jahr im Schnitt 191 Tage lang unbesetzt. «Wir könnten durchaus noch
jeweils zwei, drei Betten am Tag mehr betreiben, wenn wir das
Pflegepersonal hätten», sagt Felderhoff-Müser in Bezug auf die zwei
Intensivstationen an ihrer Klinik.

Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin abgeschafft

Für Hoch ist auch die neue Pflegeausbildung schuld an dem Problem. Im
Jahr 2020 wurden die bisherigen Berufsausbildungen der Altenpflege,
der Gesundheits- und Krankenpflege und der Gesundheits- und
Kinderkrankenpflege zusammengeführt. Seitdem gibt es nur noch eine
generalistische Ausbildung, die ermöglicht, in allen
Versorgungsbereichen zu arbeiten. 

Wer sich im Bereich Pädiatrie spezialisieren möchte, kann das seitdem
nur noch durch eine Vertiefung im dritten Ausbildungsjahr tun. «Das
wird aber viel zu wenig angeboten», kritisiert der Kinderarzt. Dabei
brauche es im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin eigentlich sogar
mehr Personal als in anderen Bereichen. Das bestätigt auch
Felderhoff-Müser. Um einem Dreijährigen Blut abzunehmen, würden
durchaus mal drei Mitarbeiter benötigt, erzählt die Ärztin. Es könn
e
vorkommen, dass ein Fünfjähriger sich weigere, zum Abhören der Brust

seinen Pullover ausziehen. Das erfordere deutlich mehr Zeit und
Geduld als bei Erwachsenen.

Zahl der Kinderkliniken schrumpft

Die schrumpfende Zahl an Einrichtungen ist laut Hoch ein weiteres
Problem. 2022 gab es seinen Angaben zufolge 326 Abteilungen,
beziehungsweise Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin in
Deutschland. Vor gut 30 Jahren seien es noch gut 440 gewesen.
Gleichzeitig steigt der Bedarf: «Wir haben viel mehr chronische
Erkrankungen und seltene Erkrankungen», sagt der
GKIND-Geschäftsührer. Hinzu kommt, dass die Geburtenzahlen in
Deutschland im Durchschnitt der letzten zehn Jahre gestiegen sind. 

Es gelinge nur wenigen Kinderkliniken die Einrichtung kostendeckend
zu führen, sagt Hoch. Die Klinken würden nach Leistung bezahlt.
Saisonbedingt führe das dazu, dass die Häuser im Sommer zum Teil
deutlich weniger Geld verdienten als im Winter, wenn viele Kinder
krank seien. «Wir haben die große Befürchtung, dass einige
Kinderkliniken schließen oder in die Insolvenz gehen müssen oder dass
die Krankenhausträger Abteilungen schließen», sagt Hoch.  Deswegen

fordern er und Felderhoff-Müser eine Grundsicherung der
Finanzierung. 

Soforthilfen sollen Kinderkliniken unterstützen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat mehrere
Regelungen umgesetzt, die die Versorgung von Kindern stabilisieren
sollen. Ein Ende 2022 beschlossenes Gesetz legte fest, dass für
Kinderkliniken 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr fließen.
Garantiert werden soll damit das Erlösvolumen der Vor-Corona-Zeit von
2019, auch wenn Kliniken nur 80 Prozent davon erzielen. Die
Finanzierung soll so auch unabhängiger von der leistungsorientierten
Logik werden. Bei der geplanten Krankenhausreform sollen laut einem
Eckpunktepapier von Bund und Ländern unter anderem die Bereiche
Kinderheilkunde und Geburtshilfe einen «zusätzlichen
Sicherstellungszuschlag» erhalten. 

Hoch kritisiert, dass die Soforthilfen seinen Angaben zufolge allen
Kliniken zugutekämen, die einmal ein Kind versorgt hätten. Für die
reinen Kinderabteilungen bleibe dadurch weniger übrig. Laut
Kinderärztin Felderhoff-Müser komme es zudem vor, dass das Geld
verwendet werde, um Defizite auszugleichen, anstatt es für die
Schaffung neuer Stellen oder Ausstattung zu verwenden. 

Beide Mediziner sind davon überzeugt, dass die Gesellschaft es sich
nicht weiter leisten kann, die Versorgung von Kindern und
Jugendlichen zu gefährden. Sie seien die Zukunft, sagt
Felderhoff-Müser.