Der Freiheit beraubt - Anklage gegen Ex-Mitarbeiter von Einrichtung

Tage- oder wochenlang sollen behinderte Bewohner einer Einrichtung in
ihren Zimmern eingesperrt, fixiert und sogar mit Tränengas traktiert
worden sein. Nach vielen Jahren wurde jetzt Anklage erhoben.

Bielefeld/Bad Oeynhausen (dpa/lnw) - Nach jahrelangen Ermittlungen
hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld Anklage gegen vier ehemalige
Mitarbeiter einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen
eingereicht. Ihnen wird in der 367 Seiten dicken Anklageschrift in
unterschiedlichen Konstellationen Freiheitsberaubung - teils in
schweren Fällen - und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.

Der ermittelnde Bielefelder Staatsanwalt Christopher York und die
betroffene Diakonische Stiftung Wittekindshof bestätigten
entsprechende Berichte mehrerer Medien am Freitag.

Laut Anklage sollen die Beschuldigten als leitende Angestellte dafür
verantwortlich sein, dass aggressive oder sich selbst gefährdende
Menschen in Hunderten Fällen tagelang widerrechtlich in ihren Zimmern
oder einem speziellen «Time-out-Raum» eingeschlossen, teils mit
Gurten fixiert und mit starken Medikamenten ruhiggestellt wurden.
Angeklagt worden seien besonders schwerwiegende Fälle mit 18
Geschädigten, sagte York.

«Es besteht der Verdacht, dass gegenüber Bewohnerinnen und Bewohnern
eines ehemaligen Geschäftsbereiches in Bad Oeynhausen-Volmerdingsen
Freiheitsentziehende Maßnahmen und andere Handlungen vorgenommen
wurden, durch die unsere Klientinnen und Klienten in ihren
Rechten verletzt worden sind», erklärte der Vorstandssprecher der
Stiftung, Pfarrer Prof. Dierk Starnitzke, am Freitag. Die Stiftung
tue alles in ihrer Macht Stehende, um die Gewaltvorwürfe aufzuklären.

Schwere Freiheitsberaubung werde in Fällen angenommen, in denen
Patienten eine Woche und teils deutlich länger in ihren Zimmern unter
Verschluss gehalten worden seien, sagte der Staatsanwalt. Auf
gefährliche Körperverletzung laute die Anklage in einer zweistelligen
Zahl von Fällen wegen des Einsatzes von Tränengas gegen Patienten. In
einem Fall sei einem Patienten ohne die dafür erforderliche
Genehmigung ein starkes Medikament verabreicht worden, das den
Sexualtrieb unterdrücke, aber erhebliche Nebenwirkungen habe.

Die Angeschuldigten und weitere Beschäftigte seien in enger
Zusammenarbeit mit der Heimaufsicht sehr zügig vom Dienst
freigestellt, entlassen, versetzt oder abgemahnt worden, erklärte der
Stiftungschef. Der betroffene heilpädagogische Intensivbereich sei
komplett aufgelöst worden.

Angestoßen wurden die Ermittlungen durch eine Strafanzeige einer
Angehörigen. Im Oktober 2019 habe es eine Durchsuchungsaktion
gegeben, berichtete Staatsanwalt York. Es handelt sich um ein
Mammutverfahren mit anfangs 165 Beschuldigten. Gegen 89 Beschuldigte
- meist Pflegekräfte - seien die Ermittlungen eingestellt worden. In
72 weiteren Fällen werde eine mögliche Anklageerhebung noch geprüft,

sagte der Staatsanwalt.

Die bereits Angeklagten, darunter der ehemalige
Geschäftsbereichsleiter und ein Arzt, sind auf freiem Fuß. Dem
ehemaligen Geschäftsbereichsleiter wurde aber laut Stiftung gekündigt
und er erhielt Hausverbot.

Der Fall hat schon während der Ermittlungen viel Aufsehen erregt und
zu einer Änderung des NRW-Wohn- und Teilhabegesetzes im April 2022
beigetragen. Damit will der Gesetzgeber den Gewaltschutz in
Behinderteneinrichtungen verbessern. Die neuen Vorgaben seien
«konsequent umgesetzt» worden, bekräftigte die Stiftung.
Freiheitsentziehende Maßnahmen als letztes Mittel müssten nach dem
neuen Konzept der Einrichtung, wo immer das die personelle Besetzung
ermöglicht, nach dem Vieraugenprinzip durchgeführt werden. Die
Bereichsleitung überprüfe jetzt täglich die Abläufe, die vorgesetzt
e
Geschäftsbereichsleitung zusätzlich wöchentlich.