Geteiltes Schicksal: Vater und Tochter leben beide mit Spenderherzen Von Christina Sticht, dpa

In der Corona-Pandemie geraten andere Krankheiten leicht in
Vergessenheit. Zum Beispiel warten Tausende Menschen auf ein
lebensrettendes Spenderorgan. Julia Fricke wurde auf diese Weise
sogar zwei Mal ein neues Leben geschenkt.

Bockenem (dpa) - «Er ist immer bei mir», sagt Peter Fricke über den
unbekannten Spender, dessen Herz seit mehr als 30 Jahren in seiner
Brust schlägt. «Vielleicht steht er gerade hinter mir und stößt mic
h
an, wenn ich irgendwelchen Mist erzähle.» Ob der Spender ein Mann
oder eine Frau war, habe ihn nie interessiert. «Was zählt ist, dass
er etwas Tolles gemacht hat. Ich bin ihm unendlich dankbar für 32
geschenkte Lebensjahre.» Peter Fricke sitzt im Garten seines Hauses
in Bockenem rund 70 Kilometer südlich von Hannover. An diesem
Spätsommertag erinnert er sich an den 27. Dezember 1990, bis heute
feiert er diesen Tag als seinen zweiten Geburtstag.

Der 35-jährige Vater von drei kleinen Töchtern liegt Ende 1990 im
Vinzenz-Krankenhaus in Hannover und wartet seit Monaten auf ein
Spenderorgan. «Am Morgen nach Weihnachten kam die Schwester rein und
sagte, Herr Fricke, es geht los. Die haben ein Herz für Sie gefunden.
Wir fahren jetzt in die Medizinische Hochschule.» Als er nach der
Operation aufwacht, sieht er als erstes weiße Laken. «Ich dachte,
bist du jetzt im Himmel? Doch dann kam dieselbe Schwester um die
Ecke, und da wusste ich, du hast es geschafft!»

Peter Fricke ist nicht der einzige in seiner Familie, der eine so
schwere Zeit durchmachen muss. Auch seine Tochter Julia braucht als
junge Erwachsene ein Spenderherz.

Vater Fricke erholt sich genauso schnell wie ihn die verschleppte
Herzmuskelentzündung zuvor zu einem Todkranken gemacht hat. Zwar muss
er täglich Medikamente nehmen und hat einen Schwerbehindertenausweis,
aber davon lässt er sich nicht aufhalten. Der frühere
Bundeswehrsoldat steigt wieder bei seinem Arbeitgeber ein, einem
Versicherungsunternehmen. «Ich habe nach der Transplantation noch 17
Jahre gearbeitet», erzählt der 67-Jährige. «Bis zu einem Burnout,
wohl ausgelöst durch die Transplantation von Julia. Ich habe mir
Vorwürfe gemacht, warum wir unsere Töchter nach meiner Herzerkrankung
nicht untersuchen lassen haben.»

Ob bei Julia Fricke frühzeitig überhaupt etwas festgestellt worden
wäre, ist fraglich. Nach Aussage ihrer Ärzte wurde ihr Herz durch die
Geburt ihres Sohnes im Juli 2004 geschädigt. Als die 20-Jährige nach
zwei Monaten ihre Ausbildung zur Krankenschwester fortsetzt, ist sie
ständig müde und erschöpft, sie hat einen Ruhepuls von 140 und
Atemnot. Bei einer Untersuchung kommt heraus: Das Herz ist bereits
stark vergrößert, die Mitralklappe - eine der vier Klappen des
Herzens - schließt nicht richtig.

Was dachte die junge Mutter, als die Ärzte ihr eröffneten, dass sie
in den nächsten zehn Jahren ein neues Herz benötigen wird? «Ich habe

sofort an meine Beerdigung gedacht», sagt die heute 38-Jährige. «Ich

wusste ja von meinem Vater, wie lange die Wartezeiten auf
Spenderorgane sind.» Peter Fricke engagiert sich seit Jahrzehnten in
der Selbsthilfe. Anfang September gab er den Vorstandsvorsitz des
Bundesverbandes der Organtransplantierten ab und wurde zum
Ehrenvorsitzenden ernannt.

Derzeit stehen 8524 Menschen auf der Warteliste von Eurotransplant
für ein Spenderorgan, davon benötigen 685 Personen ein neues Herz
(Stand 31.8.22). Die gemeinnützige Stiftung koordiniert die
Vermittlung von Spenderorganen in acht europäischen Ländern. Die
Deutsche Stiftung Organspende (DSO) berichtete im April von einem
dramatischen Einbruch der Organspende im ersten Quartal 2022 im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Hintergrund ist laut DSO unter
anderem die Arbeitsbelastung in den Kliniken aufgrund erhöhter
Personalausfälle wegen Corona-Infektionen.

Auch die Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie

(DGTHG) beklagt den Mangel an Organspendern in Deutschland im
Vergleich zu anderen Ländern. Derzeit ist die Entnahme von Organen
nach dem Tod nur zulässig, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten
oder stellvertretend die Angehörigen zugestimmt haben. In anderen
Ländern ist eine Organentnahme an einem hirntoten Verstorbenen auch
zulässig, wenn dieser einer Organentnahme nicht ausdrücklich
widersprochen hat.

Auch Julia Fricke musste auf ein Spenderorgan warten. Im März 2006
wird sie auf die Transplantationsliste gesetzt, im November 2007
erhält sie endlich ein neues Herz. Noch heute ist sie enttäuscht
darüber, dass ihr nach der OP nicht ermöglicht wurde, ihre Ausbildung
fortzusetzen. In der Zwischenzeit hatte der Träger ihrer Klinik
gewechselt. «Ich war alleinerziehend. Was macht man da, um nicht
Hartz IV zu kriegen?» Sie habe zeitweise 200 Stunden im Monat in
einem Restaurant gearbeitet und später Nachtschichten in einer
Einrichtung für psychisch Kranke übernommen.

Wenn das erste Jahr überstanden ist, können viele Patienten lange mit
einem neuen Herzen leben. Julia Frickes transplantiertes Herz aber
wird nach fast fünf Jahren abgestoßen. «Das war nachweislich der
Stress», glaubt ihr Vater. Also noch ein neues Herz? Weltweit gehen
etwa drei Prozent der Spenderherzen an Patienten, die eine erneute
Transplantation benötigen, wie Herzchirurg Jan Gummert berichtet. Er
ist ärztlicher Direktor des Herz- und Diabeteszentrum
Nordrhein-Westfalen (HDZ) in Bad Oeynhausen. Im vergangenen Jahr
wurden in Deutschland 329 Herzen transplantiert, das bundesweit
größte Zentrum ist das HDZ.

Für Julia Fricke folgt nach der Abstoßung ihres Spenderherzens ein
Kampf auf Leben und Tod: Die 27-Jährige kommt auf die Intensivstation
der MHH, wird an das Herz-Lungen-Unterstützungssystem Ecmo
angeschlossen. Peter Fricke erinnert sich an die traumatische Zeit:
«Wir sind sonntags hingefahren, da hat uns die Ärztin gesagt: Wenn
wir bis Dienstag kein Herz für Julia finden, dann können wir sie
nicht mehr halten. Das war das Schlimmste für uns.» Am nächsten Tag
sei seiner Frau auf dem Flur ein Arzt entgegengekommen mit den
Worten: «Das Wunder von Hannover: Wir haben ein Herz für Julia
gefunden!» Es wird in der Nacht auf ihren 28. Geburtstag im Juni 2012
transplantiert.

Mehr als zehn Jahre schlägt dieses Herz jetzt in ihrer Brust, ein
Teil der Narbe ist im Ausschnitt ihres T-Shirts zu sehen. Was hat
sich verändert durch das Wunder, das zweite Spenderherz? Julia Fricke
erzählt, wie sie in den ersten Wochen nach der Operation mühsam
wieder das Laufen lernte, sie wog aufgrund von Wassereinlagerungen
100 Kilo. «Als ich es in der MHH endlich nach unten geschafft und den
ersten Cappuccino getrunken hatte, habe ich mir geschworen, dass ich
nun jeden Cappuccino in meinem Leben genieße», sagt die 38-Jährige,
die inzwischen stundenweise im Nagelstudio ihrer Schwester arbeitet.

Julia Fricke ist eine Kämpferin - nur wenige Monate nach der
Entlassung aus der Klinik fuhr sie mit ihrem Sohn und ihrem Freund
sowie dessen beiden Söhnen zum Wandern nach Bayern. Mit dem Spender
ihres dritten Herzen kommuniziert sie nach eigenen Worten manchmal
abends, wenn sie allein ist. Die schwere Krankheit hat sie gelassen
gemacht. Anders als ihr Freund regt sie sich nicht über unaufgeräumte
Zimmer der Teenager auf, wie sie erzählt. «Mein Ziel vor der ersten
Transplantation war, die Einschulung meines Sohnes zu erleben. Jetzt
ist er 18 und vielleicht erlebe ich irgendwann auch noch
Enkelkinder.»