«Ihr seid grausam» - Deutsche sagt im Prozess um Nizza-Anschlag aus Von Michael Evers, dpa

Eine Berliner Oberstufenklasse ist gerade auf Klassenfahrt in Nizza,
als es dort 2016 zu einem verheerenden Anschlag kommt. Eine Lehrerin
und zwei Schülerinnen sterben. Eine Mutter schildert vor Gericht in
Paris nun die verzweifelte Suche nach ihrer Tochter.

Paris (dpa) - Die Tränen der Mutter und ihr Ringen um Fassung dringen
im großen Saal des Pariser Justizpalastes als erstes aus den
Lautsprechern, noch ehe die Nebenklägerin aus Deutschland die ersten
Worte ins Mikrofon spricht. Hunderte Kilometer ist sie erneut nach
Frankreich gereist, um sich am Mittwoch stark zu machen für ihre
Tochter, die 2016 beim Terroranschlag auf der Strandpromenade von
Nizza aus dem Leben gerissen wurde. Unter den 86 Todesopfern der
mutmaßlich islamistisch motivierten Lkw-Attacke waren damals auch
zwei Schülerinnen und eine Lehrerin der Berliner Paula-Fürst-Schule,
die auf einer Oberstufenfahrt in der südfranzösischen Stadt waren.

«Es war die Abschlussklassenfahrt, sie wollte eigentlich gar nicht
mit», sagt die 44-Jährige vor dem Spezialgericht, das das Verfahren
zu dem Anschlag verhandelt. Eine Dolmetscherin überträgt die Worte
der Mutter. Am Tag selber habe sie noch mit ihrer Tochter
telefoniert. «Normalerweise sollte sie am nächsten Tag zurückkehren
»,
sagt sie. «Für mich war sie ein kleines Mädchen, das gerade 18
geworden ist und das von der Welt noch viel sehen wollte, das ist
nicht fair.» Und mit Blick auf die Angeklagten im Saal fügt sie
hinzu: «Ich möchte, dass die Leute, die dabei waren, die mitgemacht
haben, nicht mehr rauskommen. Ihr seid grausam.»

Sieben Männer und eine Frau müssen sich in dem Prozess als
mutmaßliche Unterstützer verantworten. Drei von ihnen wird
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Den Angeklagten drohen Haftstrafen zwischen fünf Jahren und
lebenslänglich. Auch zahlreiche andere Angehörige und Betroffene will
das Gericht in den kommenden Wochen hören, es gibt mehr als 860
Nebenkläger.

Am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, war der
Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel abends nach dem Feuerwerk auf der
Flaniermeile Promenade des Anglais mit einem tonnenschweren Lastwagen
in eine Menschenmenge gerast. Es gab 86 Tote, mehr als 200 Menschen
wurden verletzt, darunter eine weitere Berliner Schülerin. Polizisten
erschossen den Gewalttäter. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
reklamierte die Tat für sich. Obwohl die Ermittler Hinweise auf eine
islamistische Radikalisierung des Täters fanden, ergab sich keine
Verbindung zum IS.

Bewegt und empört schildert die Mutter vor Gericht, dass sie von der
Berliner Schule zunächst gar nichts zum Schicksal ihrer Tochter
erfahren habe. Sie habe angerufen um zu hören, ob die Klasse
betroffen sei. «Ja, und ihre Tochter ist verschwunden», habe man ihr
gesagt. Ein zermürbendes Warten ohne Informationen habe eingesetzt.
«Die sind zurückgekommen, ich habe nur den Koffer meiner Tochter
bekommen, ich durfte nicht mit den anderen Schülern reden», sagt die
Mutter. Die Polizei habe eine Zahnbürste und eine Bürste ihrer
Tochter abgeholt - wohl für eine Identifizierung über die DNA.

Auf eigene Faust sei sie schließlich am vierten Tag nach Nizza
geflogen, um ihre Tochter zu suchen. Botschaftspersonal habe sie
empfangen, sie seien zur Polizei gefahren. «Dann habe ich das dort
erfahren», ihre Tochter sei verstorben, habe man ihr gesagt. «Ich
will sie sehen», habe sie gesagt, «sie ist meine Tochter». Sie durfte

ihre Tochter dann zwar sehen, aber habe sie nicht berühren dürfen.

Der Wunsch, ihr Kind schützen zu wollen, ist wohl auch der Grund,
dass sie nicht möchte, dass ein Foto von ihr auf die Leinwand im
Gericht projiziert wird, während sie aussagt. «Nein, kein Foto», sagt

sie entschieden. Dann will eine Nebenklage-Anwältin von der Deutschen
wissen, ob die hohe Terrorwarnstufe in Frankreich vor der
Entscheidung zu der Klassenfahrt in Berlin kein Thema gewesen sei.
«Nein, die haben uns nichts gesagt, die haben gesagt, Nizza ist
sicher, sonst hätte ich meine Tochter nicht dahin geschickt.»