Menschen im Südwesten verlieren das Vertrauen ineinander Von Nico Pointner, dpa

Ein Virus mag klein sein, aber glaubt man einer neuen Studie, hat es
die Macht, eine Gesellschaft zu zersetzen: Das Gemeinschaftsgefühl im
Südwesten ist unter Druck geraten.

Stuttgart (dpa/lsw) - Baden-Württemberg, Frühjahr 2020: Die Menschen
bleiben wie überall in Deutschland aus Verantwortungsgefühl zu Hause.
Sie gehen füreinander einkaufen. Sie applaudieren für Pflegekräfte
und musizieren auf ihren Balkons. Man hatte den Eindruck, dass der
gesellschaftliche Zusammenhalt nie stärker war, als in jenen Tagen
der ersten Corona-Welle. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Eine
aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt für den Südwesten, wie
sehr die Jahre der Pandemie die Fliehkräfte in der Gesellschaft
verstärkt haben. Die Menschen haben das Vertrauen verloren - in die
Politik, aber auch ineinander.

Was genau wurde untersucht?

Die Autoren der Studie messen den Zusammenhalt der Gesellschaft seit
einigen Jahren mit einem selbst entwickelten Index auf einer Skala
von 0 bis 100 Punkten. Der Index setzt sich aus neun Elementen
zusammen, etwa dem Vertrauen in Mitmenschen, der Akzeptanz von
Diversität und gesellschaftlicher Teilhabe. Bei der letzten
Untersuchung 2019, also noch vor Ausbruch der Pandemie, lag der Index
für den Südwesten bei 64 Punkten - auch in den Vorjahren schwankte
der Wert in dem Bereich. Bei der jüngsten Erhebung allerdings -
mitten in der Delta-Phase, von Dezember 2021 bis Januar 2022 - lag er
nur noch bei 54 Punkten. Mehr als 2700 Menschen im Land über 16
Jahren wurden befragt.

Was sind konkrete Ergebnisse der Studie?

Zusammenhalt in Nachbarschaft - Vor der Pandemie betrachteten 42
Prozent der Befragten den gesellschaftlichen Zusammenhalt als
gefährdet, gleichzeitig sprachen ganze 80 Prozent aber von einem
guten Zusammenhalt in der Gegend, in der sie selbst wohnen. Dies hat
sich radikal geändert: Nach der Pandemie sehen 48 Prozent der
Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt als gefährdet an,
genauso viele (47 Prozent) sehen aber auch den Zusammenhalt in ihrer
eigenen Nachbarschaft bedroht. «Das rückt ihnen auf die Pelle», sagte

einer der Autoren, Klaus Boehnke, von der Jacobs University Bremen.

Verschwörungstheorien - Das Potenzial für Verschwörungstheorien in
der Bevölkerung ist der Studie zufolge deutlich gewachsen. 42,4
Prozent der Menschen im Südwesten stimmen der Aussage zu, die
Regierung verschleiere die Wahrheit. 53,7 Prozent sind der Meinung,
Politiker gäben keine Auskunft über ihre wahren Motive. 32,1 Prozent
glauben daran, dass geheime Organisationen Einfluss auf
Entscheidungen haben. Und für 26,6 Prozent sind Ereignisse häufig
Ergebnis geheimer Aktivitäten.

Identifikation - Besonders die Identifikation mit dem Gemeinwesen ist
zurückgegangen. Der Wert lag auf der 100er-Skala im Südwesten 2019
noch bei 81,7 und ist nun auf 61,7 abgefallen. Nur noch etwas mehr
als die Hälfte der Befragten fühlen sich mit Wohnort oder Bundesland
verbunden. «Da ist was ins Rutschen geraten», sagte Boehnke.

Jugend - Was die Lage der Jugend angeht, sind mehr als 40 Prozent der
Befragten zwar der Auffassung, die Situation in der Wohngegend habe
sich in der Pandemie für Jugendliche verschlechtert. Die
Lebenszufriedenheit junger Menschen ist dennoch höher als bei älteren
Menschen. Sie blicken der Studie zufolge trotz allem optimistischer
als Ältere in die Zukunft. Jüngere haben die Corona-Pandemie aber als
belastender erlebt.

Vertrauen - Vor der Pandemie haben nur knapp neun Prozent der Aussage
zugestimmt, dass man sich auf niemanden mehr verlassen könne.
Mittlerweile stimmen 24 Prozent der Befragten zu - fast jeder Vierte.

Was bedeutet das alles?

«Wir waren relativ geschockt», sagte Boehnke über den Rückgang des

Zusammenhalts. Viele Menschen hätten in der Pandemie das Gefühl
gehabt, die Politik vernachlässige sie. «Der gesellschaftliche
Zusammenhalt ist in nahezu allen Dimensionen seit 2019
zurückgegangen», bilanzierte Gesundheits- und Sozialminister Manne
Lucha. Der Grünen-Politiker berichtete von mehr Konflikten und mehr
psychosozialen Belastungen. Viele soziale Beziehungen seien in der
Corona-Zeit ins Wanken geraten. Besonders betroffen seien
Alleinerziehende, chronisch Kranke oder Menschen mit geringerer
Bildung, geringem Einkommen und ohne Arbeitsplatz.

Das wird sich nach Einschätzung aus Politik und Wissenschaft auch
künftig nicht bessern. «Die Krise wird zum Normalzustand», sagte
Lucha. «Wir sind überzeugt, dass das nicht schnell wieder nach oben
schwingt», sagte Boehnke. Im Gegenteil: «Das geht noch weiter
runter.»

Was sind die Konsequenzen?

Die Forscher mahnten den Kampf gegen Verschwörungserzählungen ebenso
an wie eine verlässlichere politische Kommunikation. Vereinsleben und
soziale Veranstaltungen müssten unterstützt und Jugendlichen mehr
Aufmerksamkeit geschenkt werden. Lucha sagte, dass insbesondere
vulnerable Gruppen unterstützt werden müssten. Ehrenamt, medizinische
Versorgung und gesellschaftlicher Zusammenhalt müssten wieder
gestärkt werden.