Der Avatar im Unterricht - Hilfe für krebskranke Kinder Von Annett Gehler, dpa

An einen Schulbesuch ist bei der Krebserkrankung eines Kindes meist
nicht zu denken. Dass die jungen Patienten trotz Abwesenheit während
der langen, kräfteraubenden Behandlung weiter in ihren Klassen
eingebunden bleiben können, dafür sorgt AV1.

Jena (dpa/th) - Er bewegt den Kopf, dreht sich im Kreis, schaut
nachdenklich, freundlich oder traurig und meldet sich mit Blinklicht
zu Wort: Seit diesem Sommer steht ein kleiner, weißer Roboter auf dem
leeren Schulplatz von Paul. Seit Monaten konnte der Neunjährige -
dessen Name ein anderer ist, weil seine Familie anonym bleiben will -
wegen eines Hirntumors nicht mehr zur Schule gehen. Während der
kräftezehrenden Therapie mit langen Aufenthalten im Krankenhaus brach
der Kontakt zu seinen Klassenkameraden fast vollständig ab. Dank des
Avatars kann der Drittklässler nun wieder dem Unterricht folgen und
ist trotz Abwesenheit bei seinen Klassenkameraden.

«AV1 hat Paul geholfen, dass er den Anschluss an seine Klasse nicht
verliert», sagt Heilpädagogin Mireille Le Lièvre von der
Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena, welche die Familie von
Paul betreut. Der Verein hat den Avatar für die jungen Patienten
angeschafft. Es ist den Angaben zufolge der Erste in Thüringen und
wird als Modellprojekt von der Techniker Krankenkasse (TK) über drei
Jahre finanziert. «Mit so einem Avatar sind die Chancen sehr gut,
dass an Krebs erkrankte Kinder die Klasse nicht wiederholen müssen.»

Der nur etwa 30 Zentimeter große Avatar überträgt Bild und Ton aus
dem Klassenzimmer an das Smartphone oder Tablet des erkrankten
Schülers, wie Le Lièvre erklärt. Das Kind kann den Avatar mittels App

aus dem Klinikbett oder vom heimischen Sofa aus steuern - sich
melden, eine Frage stellen oder in der Pause mit seinen Freunden
quatschen. Leuchten die LEDs auf dem Kopf des Roboters blau, wissen
Lehrer und Mitschüler, dass Paul gerade nicht ansprechbar ist.

«Die Avatare sind noch relativ neu auf dem Markt, haben uns aber
sofort angesprochen», sagt die Geschäftsführerin der
Elterninitiative, Katrin Mohrholz. Der Verein betreut jährlich rund
30 bis 35 neu erkrankte Kinder, die am Jenaer Uniklinikum stationär
behandelt werden und ist nach eigenen Angaben die einzige
Beratungsstelle für Eltern mit krebskranken Kindern in Thüringen.
Knapp 5000 Euro koste ein Exemplar, hinzu kommen Servicegebühren von
jährlich bis zu 800 Euro. Mit dem Avatar werde zwar Bild und Ton aus
dem Klassenraum übertragen, Aufzeichnungen seien aber aus
datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich. Auch die erkrankten
Kinder seien nicht sichtbar.

Jährlich erkranken nach offiziellen Zahlen in Deutschland mehr als
2000 Kinder an Krebs. Die Avatare bieten die Möglichkeit, dass sie
besser ihre sozialen Kontakte halten können, betont der Leiter der
TK-Niederlassung, Guido Dressler. Durch die Chemotherapie werde das
Immunsystem stark angegriffen und der Körper geschwächt. Während der

Akuttherapie sind die kleinen Patienten daher oftmals isoliert.

«Die Avatare geben den Kindern so viel», ist auch die
Geschäftsführerin der Thüringischen Krebsgesellschaft, Astrid Heßme
r,
von den Robotern überzeugt. «Die psycho-onkologische Behandlung wird
dadurch enorm unterstützt.» Die ersten Prototypen wurden laut Heßmer

2019 in Schleswig-Holstein erprobt.

Ein Stück Normalität in einer absoluten Ausnahmesituation: Paul hat
mit dem Avatar nicht nur die Angst verloren, nach langer Fehlzeit
wieder in die Schule zurückzukehren. Mit dem Kuchen von Mama und dem
Roboter konnte er auch seinen Geburtstag im Kreise seiner Mitschüler
feiern. Wenn Paul bald selbst wieder die Schulbank drückt, wechselt
der Avatar dann zu einem anderen krebskranken Kind.