Mit mehr Viertimpfungen gegen die Sommerwelle? Was die Stiko sagt Von Gisela Gross, dpa

Angesichts steigender Corona-Fallzahlen ausgerechnet zur Reisezeit
fragen sich auch viele jüngere, nicht vorerkrankte Menschen: Sollte
ich mich jetzt zum zweiten Mal boostern lassen? Warum die Stiko das
bisher nicht allgemein empfiehlt.

Berlin (dpa) - Vor allem die Omikron-Sublinie BA.5 beschert
Deutschland steigende Corona-Fallzahlen. Sollte man sich besser
erneut impfen lassen, um den Sommer unbeschwerter genießen zu können?
Obwohl in einigen Monaten neue, an Omikron angepasste Impfstoffe
erwartet werden? Das fragen sich so einige Menschen, deren jüngster
Piks gegen Sars-CoV-2 nun schon länger zurückliegt.

Bisher empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) einen zweiten
Booster nur einigen Gruppen, darunter Menschen mit unterdrücktem
Immunsystem, Pflegeheimbewohner, Menschen ab 70 Jahren und Personal
medizinischer Einrichtungen. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung haben
nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI; Stand 21.6.) 6,5 Prozent
eine zweite Auffrischimpfung erhalten, bei den Menschen ab 60 Jahren
ist es knapp jeder Fünfte.

Janosch Dahmen, Grünen-Gesundheitspolitiker, hat vergangene Woche
eine erneute Prüfung und gegebenenfalls rechtzeitige Ausweitung der
Stiko-Empfehlung wieder ins Gespräch gebracht: So könnten laut Dahmen
etwa auch Menschen, die jünger als 70 Jahre sind und gerade
diejenigen mit Risikofaktoren, vor dem Herbst ein weiteres
Impfangebot sowohl gegen Corona als auch gegen Influenza bekommen.

Was sagt die Stiko dazu? Hinter einer allgemeinen Empfehlung zu einer
weiteren Auffrischimpfung müsse - wie bei jeder medizinischen
Maßnahme - eine begründete medizinische Indikation stehen, teilte der
Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens auf dpa-Anfrage mit. Die Annahme
«Viel hilft viel» könne hierbei nicht der Leitsatz sein. «Der
Handlungswille von Politikern ist ein wesentliches Element der
politischen Gestaltung, allerdings müssen die resultierenden
Handlungen vor ihrer Umsetzung soweit irgend möglich geprüft sein.»

Es müssten Daten und Erkenntnisse zu einer Reihe von Punkten
vorliegen, führte Mertens aus. Es gehe darum, was die bereits
verfügbaren und die in Entwicklung befindlichen angepassten
Covid-19-Impfstoffe in der aktuellen Situation leisten können: Wie
gut schützen sie vor Infektion und Erkrankung durch alle bisher
bekannten Virusvarianten? Und welche weiteren Entwicklungen bei
Varianten lassen sich überhaupt erkennen?

Vor allem zu diesen beiden Punkten lägen derzeit keine ausreichenden,
belastbaren Daten vor, erklärte der Virologe. «Das Vorliegen der
Daten ist eine Voraussetzung für eine begründete neue Impfempfehlung
für alle und muss auch beim «Handlungswillen» der Politik unbedingt
Berücksichtigung finden.» Außerdem müsse noch beachtet werden, ob e
s
neue Aspekte bei der Sicherheit der Impfstoffe gibt und wie sich die
Immunität von Geimpften und/oder Genesenen entwickelt.

Weitere Experten stärken der Stiko auf dpa-Anfrage den Rücken. Der
Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten
Watzl, teilte mit, er sehe aktuell noch keinen Bedarf für eine
generelle Empfehlung zu einer vierten Impfung. Für immungesunde
Menschen gelte, dass der Schutz vor schwerer Erkrankung auch mehr als
sechs Monate nach der dritten Impfung immer noch sehr hoch sei.

Wer wolle, könne sich - auch ohne unter die Stiko-Empfehlung zu
fallen - ein viertes Mal impfen lassen, um den Immunschutz wieder in
etwa auf ein Niveau wie kurz nach der dritten Impfung zu bringen.
Dies schade nicht und man verbaue sich nichts in Bezug auf eine
eventuell fünfte Impfung mit einem an Omikron angepassten Impfstoff.
«Bei einer generellen Empfehlung befürchte ich jedoch, dass bei
vielen der Eindruck entsteht, dass ich mich alle sechs Monate impfen
muss, um geschützt zu sein. Und das stimmt ja nicht und könnte zu
einer Impfmüdigkeit führen», sagte Watzl.

«Ich denke, dass die Empfehlungen der Stiko sehr ausgewogen und
sachgerecht sind», erklärte auch der Immunologe Andreas Radbruch,
Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums
in Berlin. Eine vierte Impfung jetzt für alle sehe er aus mehreren
Gesichtspunkten kritisch. Einer davon: Die vierte Impfung mit den
bisher verfügbaren Impfstoffen schütze «nur sehr unvollkommen vor
Infektion und Infektiosität». Radbruch bezieht sich dabei auf
israelische Daten, die sich auf den Schutz vor Omikron beziehen. Er
nimmt an, dass der Schutz auch eher kurz anhält.

Auch Radbruch betont: Schon die zweite und dritte Impfung schützten
sehr gut vor schwerer Krankheit und Tod. Eine vierte Impfung mit den
bisherigen Impfstoffen setze wahrscheinlich nur wenig darauf, könne
aber eventuell sogar hinderlich sein, später auf neue Impfstoffe und
Virusvarianten optimal zu reagieren.

In einer britschen Studie im Fachblatt «The Lancet» erwähnen die
Autoren einen möglichen Deckeneffekt: Der Nutzen einer vierten Dosis
könne bei Menschen, die schon starke Immunantworten durch kürzlich
erfolgte Infektion oder Impfung aufweisen, möglicherweise geringer
ausfallen. Der Effekt könne etwa von der Art und Dosis des Impfstoffs
abhängen, es seien dazu aber noch weitere Analysen nötig.

Wie auch andere Experten zuletzt mehrfach betont hatten, bedeuten die
abfallenden Antikörperspiegel im Blut in der Zeit nach der Impfung
nicht, dass man Sars-CoV-2 ohne jegliche Abwehr ausgeliefert ist. «Es
ist absolut normal, gesund und wünschenswert, wenn der
Antikörperspiegel im Verlauf einer Immunreaktion abfällt, denn so
werden die Plasmazellen selektiert, die die besten Antikörper
machen», erklärte Radbruch. Diese Plasmazellen würden dann «ins
Knochenmark rekrutiert, wo sie uns über Jahre und Jahrzehnte mit den
schützenden Antikörpern versorgen».