Vor 20 Jahren wurde Europa poliofrei - doch Risiko neuer Fälle steigt Von Christiane Oelrich, dpa

Mit unermüdlichen Impfkampagnen bis in entlegenste Gegenden hat die
Weltgemeinschaft die endgültige Ausrottung von Polio fast geschafft.
Doch jetzt gibt es Rückschläge, vor allem durch die Corona-Pandemie.

Genf (dpa) - Melik Minas war nicht mal drei Jahre alt, als er sich
1998 in der Türkei mit dem heimtückischen Poliovirus ansteckte. Der
Junge war nicht geimpft und bekam Kinderlähmung. Melik, der sich nach
Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) später etwas erholte,
erlangte Berühmtheit: Er war der offiziell letzte Fall von Polio in
Europa. Wenige Jahre später, am 21. Juni 2002, erklärte die WHO ihre

Europa-Region mit mehr als 50 Ländern für polio-frei.

Der 20. Jahrestag ist ein Meilenstein, aber es sieht nicht in aller
Welt rosig aus. Das Ziel, nach der Ausrottung der Pocken 1980 auch
Polio zur Geschichte zu machen, wurde bislang verfehlt. Immer neue
Konflikte, die Vertreibung von Bevölkerungen, Migration und die
Corona-Pandemie dürften es in weitere Ferne gerückt haben.

Routine-Impfungen, zu denen auch Polio gehört, seien in den
Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen worden, sagt Oliver
Rosenbauer von der Polio-Ausrottungsinitiative der WHO in Genf. «In
einigen Regionen sind Kinder nun einem höheren Risiko durch
Infektionen wie Polio ausgesetzt», sagt er. «Dadurch steigt auch das
Risiko, das Polio sich international wieder ausbreitet.»

Polio - oder auch Kinderlähmung - ist eine ansteckende
Infektionskrankheit, die Lähmungen auslösen und zum Tod führen kann.

Vor allem bei Kleinkindern können dauerhafte Schäden bleiben.
Verbreitet wird das hoch ansteckende Virus oft über verunreinigtes
Wasser. Eine vollständige Heilung gibt es bisher nicht.

In den vergangenen zehn Jahren wurden nach WHO-Angaben rund zehn
Milliarden Impfdosen verabreicht. Ohne diesen Einsatz hätten nach
ihren Angaben 6,5 Millionen Kinder Kinderlähmung bekommen.

Das Risiko einer neuen Ausbreitung in zur Zeit poliofreien Ländern
ist real. Bis vor Kurzem zirkulierte das wilde Poliovirus praktisch
nur noch in Pakistan und Afghanistan, mit je einer Handvoll Fällen.
Aber in diesem Jahr wurden erstmals seit 2016 wieder Fälle in Malawi
gemeldet, und in Mosambik, eingeschleppt vermutlich aus Pakistan.
Afrika war erst 2020 als polio-frei deklariert worden.

Auch in der WHO-Europaregion, die sich von Turkmenistan bis nach
Israel erstreckt, kommt es immer mal zu vereinzelten Fällen. So gab
es nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Deutschland Anfang der
90er Jahre drei Fälle, die aber keine Ausbreitung nach sich zogen.

Es gibt aber neben dem Wildvirus auch Einzelfälle, bei denen eine
abgeschwächte Erkrankung durch Lebendimpfstoff ausgelöst wird.
Weltweit waren es nach WHO-Angaben in zehn Jahren weniger als 800
Fälle. In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko)
deshalb seit 1998 den Einsatz inaktivierter Polio-Vakzine.

Der Schlüssel zur Polio-Ausrottung ist das Ende des Wildvirus, sagt
Rosenbauer. Wenn der nicht mehr zirkuliert, seien Impfungen nicht
mehr nötig und die Gefahr von Impfpolio damit beseitigt. «Solche
Impftypen entwickeln sich nur dort, wo nicht genügend geimpft wird»,
sagt er. Das passierte nach Angaben der Ausrottungsinitiative jüngst
noch in Israel und der Ukraine, vor dem Krieg.

Die WHO arbeitet mit Hochdruck an einer Endstrategie. Bis 2026 sollen
jedes Jahr 370 Millionen Kinder in 50 Ländern geimpft werden. Dazu
sind 4,8 Milliarden Dollar nötig, die im Oktober bei einer
Geberkonferenz in Berlin zusammenkommen sollen. Die Bundesregierung
gehört zu den größten Geldgebern der Polioausrottungsinitiative
(GPEI). Damit soll auch das letzte Kind in der abgelegensten Region
erreicht und Polio ein für alle mal von der Erde verbannt werden.