Kinderreiche müssen in Pflegeversicherung besser gestellt werden

Schon heute gilt: Eltern müssen in der Pflegeversicherung weniger
zahlen als Menschen ohne Kind. Doch diese einfache Unterscheidung
reicht aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht aus.

Karlsruhe (dpa) - Gute Nachricht für Eltern mit mehreren Kindern: Sie
müssen nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bei der
gesetzlichen Pflegeversicherung besser gestellt werden als kleinere
Familien und Kinderlose. Für die Beiträge zur gesetzlichen Renten-
und Krankenversicherung gilt dies hingegen nicht. Die Praxis, hier
überhaupt nicht zwischen Eltern und Kinderlosen zu unterscheiden, sei
rechtens, entschied das oberste deutsche Gericht (1 BvL 3/18 u.a.).
Familienverbände wollen nun auf politischem Weg für ihr Anliegen
kämpfen.

Das Gericht ordnete an, Beitragssätze in der Pflegeversicherung bis
Ende Juli 2023 an die konkrete Zahl der Kinder anzupassen. «Diesen
Beschluss werden wir in der erklärten Frist umsetzen», sagte
Gesundheitsminister Karl Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland (RND). Der SPD-Politiker fügte hinzu: «Die
Pflegeversicherung muss aber auch grundsätzlich solider finanziert
werden. Auch das werden wir angehen.» Für den Koalitionspartner FDP
kündigte Vize-Fraktionschef Lukas Köhler an, spätestens im nächsten

Sommer gebe es ein System, «in dem die reale Erziehungsleistung in
der Pflegeversicherung besser berücksichtigt wird».

Der Deutsche Gewerkschaftsbund will mehr: «Es reicht nicht aus, die
Debatte um den Lastenausgleich auf diejenigen zu beschränken, die ins
Solidarsystem der Sozialversicherung einzahlen», sagte
Vorstandsmitglied Anja Piel mit Blick auf Selbstständige. «Wir
brauchen deshalb dringend einen gerechten gesamtgesellschaftlichen
Lastenausgleich, der nicht auf einzelne Systeme oder Gruppen
beschränkt bleibt.»

Der Arbeitgeberverband Pflege geht von steigendem Druck auf die
Bundesregierung aus, «sich endlich einer öffentlichen Diskussion über

die künftige Finanzierung der Pflege zu stellen». Angesichts von
Lohnzuwächsen, explodierenden Energiepreise und hoher Inflation werde
vielen Pflegeeinrichtungen nichts anderes übrig bleiben, als den
Eigenanteil der Pflegebedürftigen beziehungsweise der Angehörigen zu
erhöhen - bis hin zu einer Verdopplung, so Präsident Thomas Greiner.

«So erfreulich die heutige Entscheidung zur sozialen
Pflegeversicherung auch für Familien ist, sie betrifft leider nur den
ökonomisch unbedeutendsten der drei Sozialversicherungszweige»,
erklärte der Präsident des Familienbunds der Katholiken (FDK), Ulrich
Hoffmann. «So kann es nicht gelingen, Familien aus der strukturellen
Benachteiligung und der Armut zu holen.»

Schon 2001 hatte das Verfassungsgericht geurteilt, es sei nicht mit
dem Grundgesetz vereinbar, dass Eltern einen genauso hohen Satz für
die Pflegeversicherung zahlen müssten wie Kinderlose - sie leisteten
einen «generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines
umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems». Die Beitragssätze
wurden daraufhin angepasst. Seit Anfang dieses Jahres liegt jener für
Eltern bei 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens, der für Kinderlose bei
3,4 Prozent.

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts greift das aber zu kurz:
Je mehr Kinder eine Familie habe, desto größer seien der Aufwand und
die damit verbundenen Kosten. «Diese Benachteiligung tritt bereits ab
einschließlich dem zweiten Kind ein», heißt es in der Mitteilung.
«Die gleiche Beitragsbelastung der Eltern unabhängig von der Zahl
ihrer Kinder ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.» Der
Gesetzgeber müsse diese Benachteiligung beheben.

In der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Lage nach Überzeugung
des Gericht anderrs: Hier werde der Wert der Kindererziehung
insbesondere durch die Anerkennung sogenannter Kindererziehungszeiten
honoriert, entschied der Erste Senat unter Vorsitz von
Gerichtspräsident Stephan Harbarth. Mit Blick auf die gesetzliche
Krankenversicherung betonten die Richterinnen und Richter, dass die
Versicherten hier schon in Kindheit und Jugend «in erheblichem
Umfang» von den Leistungen profitierten.

Dass in diesen beiden Fällen keine Unterschiede zwischen Menschen mit
und ohne Kindern gemacht werden, hatte schon das Bundessozialgericht
in mehreren Urteilen für rechtens erklärt. Gegen diese Entscheidungen
wehrten sich mehrere Eltern mit Verfassungsbeschwerden, unterstützt
vom Familienbund der Katholiken in der Erzdiözese Freiburg.

«Nicht nur im Interesse der Familien, sondern in erster Linie der
Gesellschaft, brauchen wir eine strukturelle Reform der gesetzlichen
Sozialversicherung, die die Erziehung von Kindern gerecht bewertet»,
erklärte FDK-Präsident Hoffmann. Die Entscheidung des Gerichts mache
aber deutlich, dass Beitragsgerechtigkeit nicht über Klagen, sondern
über den politischen Diskurs zu erreichen sei.

Aus Sicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz war mehr Solidarität
bei den Beiträgen überfällig. «Pflege ist sowohl jetzt als auch in

der Zukunft die große Herausforderung», sagte Vorstand Eugen Brysch.
Denn die Ehegatten und Kinder stemmten «den größten Pflegedienst
Deutschlands». Die Versicherung trage nur einen Sockel der Kosten.