Gehalt ist nicht alles - Neue Freiräume bei der Arbeit gesucht Von Christian Böhmer, dpa
Konferenzen sind bei SAP freitags weitgehend tabu. Beim Autobauer
Mercedes-Benz gibt es für Softwareentwickler flexible Arbeitszeiten.
Ein Forscher sieht einen Trend zu mehr Freiheit im Betrieb. Gibt es
auch Schattenseiten?
Stuttgart/Leipzig (dpa) - Weniger Stress vor dem Wochenende - so
lautet das Motto bei Europas größtem Softwarekonzern SAP.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland sind aufgefordert,
freitags soweit wie möglich auf Konferenzen sowie Telefon- und
Videoschalten zu verzichten.
Die Aktion der Walldorfer beginnt offiziell an diesem Freitag (20.
Mai). Es sei nun möglich, «an einer Sache länger konzentriert zu
arbeiten oder auch um einen Zeitpuffer zu haben, falls noch eine
wichtige Abstimmung stattfinden muss», zitierte das Unternehmen Tabea
Maechtel, die unter anderem als Coach arbeitet. Sie nutzt die Zeit,
um mit ehemaligen Kollegen in Kontakt zu bleiben, mit einer Kollegin
Essen zu gehen, E-Mails zu beantworten und ein Buchkapitel zu lesen.
Die Branche der Informationstechnik (IT) kann sich angesichts der
Umbrüche in der Arbeitswelt glücklich schätzen. Spezialisten sind
gesucht, flexibles Arbeiten gibt es schon länger, und manche arbeiten
auf einem anderen Kontinent als ihr Arbeitgeber. «In der IT-Branche
sieht man, dass neben dem Gehalt auch die Arbeitsgestaltung,
Mitspracherechte und das soziale Umfeld bei der Arbeit zunehmend eine
Rolle spielen», sagte Hannes Zacher, Professor für Arbeits- und
Organisationspsychologie an der Universität Leipzig, der Deutschen
Presse-Agentur.
Bei IT-Dienstleistern sind weiter viele Beschäftigte im Homeoffice -
auch wenn die Pflicht, die Heimarbeit zu ermöglichen, im Zuge der
abklingenden Corona-Pandemie mittlerweile weggefallen ist. Im April
waren immerhin 72 Prozent der Belegschaften in der Heimarbeit, mehr
als doppelt so viele wie im Schnitt der Dienstleister insgesamt, wie
das Münchener Ifo-Institut kürzlich berichtete.
Softwareentwickler sind begehrt, auch in der Automobilindustrie.
Autos werden digitalisiert und sollen in Zukunft auch ohne Fahrer
auskommen. Der Hersteller Mercedes-Benz stellt weltweit viele
Spezialisten ein. «Die Nachfrage ist deutlich höher als das Angebot»,
resümierte unlängst Markus Schäfer, der im Vorstand die Bereiche
Entwicklung und Einkauf verantwortet.
Um das Softwarezentrum in Sindelfingen südwestlich von Stuttgart
attraktiver zu machen, vereinbarte der Hersteller mit dem Betriebsrat
ein neues Arbeitszeitmodell. Schäfer hob die sogenannte
Vertrauensarbeitszeit hervor, bei der eine Zeiterfassung entfällt.
Entwickler können beispielsweise mittags nach Hause gehen, andere
Dinge machen und dann später wiederkommen. «Das klassische Arbeiten
in einem Einzelbüro ist lange vorbei», bilanzierte Schäfer. Wenn das
Wetter mitspielt, kann in Sindelfingen auch auf der begrünten
Dachterrasse «g'schafft» werden, wie es im Schwäbischen heißt.
Die Corona-Pandemie löste in der Arbeitswelt viele Denkanstößen aus,
wie der Leipziger Psychologe Zacher festgestellt hat. «Warum arbeite
ich?», «Wie will ich arbeiten?» - diese und andere Fragen würden
häufig gestellt. Zudem müssten nicht nur Großkonzerne, sondern auch
kleine und mittelständische Unternehmen auf den Mangel an Fachkräften
reagieren. Es gehe darum, Menschen zu motivieren und dauerhaft zu
halten. «Das geht über Instrumente wie flexible Arbeitszeiten und
individuelle Vereinbarungen für Auszeiten wie Sabbaticals. Die Liste
ist da ziemlich lang.»
Beschäftigte schauen sich zunehmend an, wie sie in ihrer
Lebenssituation vom Arbeitgeber unterstützt werden. Das Zauberwort
lautet dabei «Work-Life-Balance» - also das Gleichgewicht von Leben
und Arbeit. «Gerade Fachkräfte sind in einer ganz guten
Verhandlungsposition für Verbesserungen. Die Pflege von Angehörigen
wird beispielsweise immer mehr ein Thema. Darauf müssen sich
Arbeitgeber einstellen», resümierte Zacher. Er erwartet, dass sich
dieser Trend in den nächsten Jahren noch verstärken wird.
Steuert das Arbeitsleben - zumindest in einigen Bereichen - auf
Wohlfühloasen zu? Experte Zacher machte deutlich, dass ein
wandelbares Arbeitsumfeld zwar Einzelne stärken kann, die besondere
Kompetenzen haben. Doch Unterschiede werden demnach größer:
«Tarifverträge und das Arbeiten im Büro generell sind große
Gleichmacher. Es wird sichergestellt, dass es faire Bedingungen gibt
und die Arbeitnehmerschaft solidarisch ist. Das geht immer mehr
verloren», lautet Zachers nüchternes Fazit.
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