) Wo steht Deutschland in der Pandemie? «Licht am Ende des Tunnels» Von Walter Willems und Theresa Münch, dpa

Die Omikron-Variante sorgt für explodierende Corona-Zahlen - könnte
aus Sicht von Experten aber auch den Weg aus der Dauerkrise weisen.
Doch noch dürfe sich Deutschland andere Länder nicht zum Vorbild
nehmen.

Berlin/Hamburg (dpa) - Es ist schwer zu durchblicken: Erstmals
übersteigt die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz die 500er-Marke, hat
mancherorts sogar Werte über 1500 erreicht. Zugleich spricht das
Robert Koch-Institut (RKI) von einer «neuen Phase der Pandemie», in
der reine Fallzahlen in den Hintergrund rückten. Bayerns
Ministerpräsident Markus Söder deutet die Abkehr vom «Team Vorsicht
»
an. Und in vielen europäischen Ländern werden Corona-Maßnahmen
gelockert. Wo steht Deutschland?

In welcher Phase der Pandemie steht Deutschland gerade?

Die sehr ansteckende Sars-CoV-2-Variante Omikron sorgt für einen
Anstieg der Corona-Neuinfektionen, geht allerdings tendenziell mit
milderen Verläufen einher als ihr Vorgänger Delta. «Wegen der hohen
Inzidenzen durchlaufen wir zurzeit eine kritische Phase», sagt Hajo
Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie
(BIPS) in Bremen. Wegen der extremen Dynamik könne es in den
kommenden Wochen nochmals an vielen kritischen Stellen Engpässe geben
- sowohl in Krankenhäusern als auch bei der sonstigen Versorgung.
Davor warnt auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

«Aber es gibt Licht am Ende des Tunnels», betont Zeeb. «Der
derzeitige Anstieg wird in eine andere Phase der Pandemie münden.»
Davon geht auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der
Universität Hamburg aus. «In Großbritannien bricht die Omikron-Welle

gerade in sich zusammen. Das kann man mit etwas Verzögerung auch
hierzulande erwarten. Es gibt bisher keine Daten, die gegen dieses
Szenario in Deutschland sprechen würden.»

Wann wird dieser Scheitelpunkt voraussichtlich erreicht sein?

Die Experten rechnen mit hohen Inzidenzen noch für Januar und
Februar. «Basierend auf den Daten aus anderen Ländern und unseren
Maßnahmen in Deutschland könnte diese Welle in ein oder zwei Monaten
überstanden sein», sagt Schmidt-Chanasit. «Hinzu kommt dann ab dem
Frühjahr die starke Saisonalität des Virus. Die hat einen sehr
starken Einfluss auf das Infektionsgeschehen - unabhängig von der
Virusvariante.»

Wie hoch ist bis zum Abflauen der Omikron-Welle das Risiko für eine
Überlastung der Krankenhäuser?

Zeeb verweist auf das Bundesland Bremen, das mit mehr als 1400 die
mit Abstand höchste Sieben-Tage-Inzidenz der Bundesländer aufweist.
«In Bremen ist die Belegung der Intensivstationen stabil, obwohl die
Inzidenz schon seit mehr als einer Woche steigt», sagt er. Allerdings
seien die Normalstationen sehr stark mit Covid-19-Patienten belegt.

«Bisher sehen wir keine Überlastung der Intensivstationen», sagt auch

Schmidt-Chanasit. Die Lage in Bremen mit seiner hohen Impfquote
zeige, wie wichtig Impfungen zum Verhindern schwerer
Krankheitsverläufe seien. Allerdings müsse man die nächsten ein bis
zwei Wochen abwarten und dabei die vulnerablen Bevölkerungsgruppen
besonders im Blick behalten - also ältere Personen und Menschen mit
Immunschwäche.

Wegen der hohen Zahlen plädiert Schmidt-Chanasit dafür, bei den
Testungen zu priorisieren. «Wir sollten die begrenzten Ressourcen
dort einsetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.» Dazu
zählten etwa ältere Menschen und Einrichtungen wie Pflegeheime und
Krankenhäuser, nicht aber PCR-Tests für junge asymptomatische
Menschen.

Länder wie Spanien erwägen einen Wechsel der Corona-Strategie. Wäre
das auch für Deutschland sinnvoll?

Nach Angaben des spanischen Ministerpräsident Pedro Sánchez arbeiten
Experten daran, Covid-19 ähnlich wie eine Grippe zu behandeln. Statt
jeden zu testen, könnten Stichproben erfasst und als Grundlage für
ein Frühwarnsystem hochgerechnet werden. Als Grund für den
Kurswechsel nannte Sánchez auch die erfolgreiche Impfkampagne.

Deshalb ist das Modell Experten zufolge auch nicht so einfach auf
Deutschland übertragbar. «Entscheidend ist die Grundimmunität der
Bevölkerung - entweder durch die Impfung oder eine überstandene
Infektion», sagt Zeeb. Spanien habe das mit seiner hohen Impfquote
von mehr als 80 Prozent geschafft, Deutschland lag am Wochenende laut
RKI bei rund 73 Prozent mit vollständiger Grundimmunisierung. «Wir
müssen die Immunität durch die Impfungen weiter aufbauen, und das
kann noch dauern», sagt Zeeb. Das von der Bundesregierung angestrebte
Ziel von 80 Prozent Erstimpfungen bis Ende des Monats sei schwer zu
erreichen.

Wann könnte in Deutschland ein Strategiewechsel möglich sein?

Zeeb rechnet damit, dass es je nach Immunisierungsgrad der
Bevölkerung Mitte des Jahres so weit sein könnte. Das Coronavirus
werde sich in der Bevölkerung ausbreiten. «Wir werden uns über kurz
oder lang alle mit Sars-CoV-2 infizieren», sagt er. Auch der Virologe
Christian Drosten sieht in Omikron eine «Chance», aus dem Krisenmodus
rauszukommen - breite Immunität vorausgesetzt. Alle Menschen müssten
sich früher oder später infizieren. «Ja, wir müssen in dieses
Fahrwasser rein, es gibt keine Alternative», sagte er dem
«Tagesspiegel am Sonntag». «Das Virus muss sich verbreiten, aber eben

auf Basis eines in der breiten Bevölkerung verankerten Impfschutzes»
- sonst würden «zu viele Menschen sterben».

Je mehr Menschen durch Impfungen oder Infektionen immunisiert seien,
desto unwahrscheinlicher werde eine Überlastung des
Gesundheitswesens, sagt Schmidt-Chanasit. Dann sei die Sonderrolle
von Sars-CoV-2 im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten nicht
mehr gerechtfertigt. Dafür müsse man die Datenlage genau analysieren.
«Aber der Zeitpunkt für die Diskussion wird im Frühjahr sein - nach
dem Ende der Omikron-Welle», sagt der Virologe.

Auch in der Politik gibt es vorsichtige Anzeichen für einen möglichen
Strategiewechsel. Bayerns Ministerpräsident Söder, bisher «Team
Vorsicht», sagte dem «Münchner Merkur»: «Es wird nicht mehr
ausreichen, die Lage nur medizinisch und virologisch zu betrachten.
Wir müssen auch auf die gesellschaftliche und soziale Komponente
stärker achten.» Bisher schilderten Experten eine geringere Anzahl
Patienten in den Krankenhäusern und mildere Verläufe. «Omikron ist
nicht Delta. Das heißt: Wir müssen genau justieren, welche Regeln
zwingend nötig, aber auch verhältnismäßig sind.»

Könnte sich die Situation wieder zuspitzen durch eine neue
Corona-Variante, die ähnlich ansteckend ist wie Omikron, aber
deutlich aggressiver?

«Dieses Szenario kann man zwar nicht ausschließen, es ist aber extrem
unwahrscheinlich», sagt Schmidt-Chanasit. Die Omikron-Variante
befalle im Vergleich zur Delta-Variante stärker die oberen Atemwege
und weniger die tiefen Bereiche der Lunge. Daher verursacht sie
weniger schwerwiegende Verläufe.

Zwar komme es mit zunehmender Grundimmunität der Bevölkerung seltener
zu schweren Verläufen, aber: «Sars-CoV-2 wird in den nächsten Jahren

für die Älteren oder Menschen mit Immunschwäche noch eine
Herausforderung bleiben.» Insofern geht der Virologe davon aus, dass
neben der Impfung in diesen Bereichen auch Masken und Tests in den
nächsten Jahren noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Epidemiologe Zeeb hält eine noch infektiösere Variante als Omikron in
der nahen Zukunft für unwahrscheinlich. Seine Hoffnung: «Im Moment
durchlaufen wir die Omikron-Welle und bauen damit - am besten auf
Basis geboosterter Impfungen - Immunität auf. Das ist auch für
spätere Varianten wichtig.»