Historiker: «Schlaf war Einfallstor für alles Böse» Von Julia Giertz, dpa

Welchen Stellenwert hat der Schlaf in einer Gesellschaft? Dieser
Frage geht ein Mannheimer Wissenschaftler nach. Über die Jahrhunderte
erfuhr die Nachtruhe nach seinen Forschungsergebnissen sehr
unterschiedliche Wertschätzung.

Mannheim (dpa/lsw) - Fast jeder empfindet heutzutage ausreichenden
Schlaf als notwendig und gesund - doch das war nicht immer so, wie
der Mannheimer Historiker Hiram Kümper herausgefunden hat. «Im frühen

Christentum wird der Schlaf suspekt, weil er den Menschen den Willen
und die Kontrolle nimmt», erläutert der Wissenschaftler von der
Universität Mannheim. Insbesondere in Klöstern hielt man die
Schlaflosigkeit hoch, um Ejakulationen im Schlaf als Zeichen sündiger
Gedanken zu vermeiden, wie der Experte erklärt, der sich mit der
kulturellen Bewertung von Schlaf und Wachsein über die Jahrhunderte
beschäftigt.

Klosteraufzeichnungen zeigten, dass Mönche in aller Herrgottsfrühe
aufstanden, aber auch recht früh wieder zu Bett gingen. «Schlaf wurde
als das Einfalltor für alles Böse betrachtet und man versuchte
deshalb, die Schlafzeit zu verkürzen.» Heute zeigt sich eine völlig
konträre Einstellung in der Redewendung «Wer schläft, der sündigt
nicht». Derzeit legen sich die meisten Menschen zwischen sechs und
acht Stunden lang aufs Ohr. Davon kann individuell abgewichen werden.
«Fünf oder neun Stunden sind auch noch ok», sagt Hilmar Leuck, Leiter

der Sinsheimer Selbsthilfegruppe Schlaf-Apnoe.

Laut dem Statistischen Bundesamt wurden in Deutschland im Jahr 2019
rund 101 400 Patienten mit der Diagnose Schlafstörungen stationär
behandelt. Dazu gehören Ein- und Durchschlafstörungen, Schlafapnoe
(Atemaussetzer), aber auch ein krankhaft gesteigertes
Schlafbedürfnis. Nach einer Studie der Krankenkasse DAK aus dem Jahr
2017 haben 80 Prozent der Arbeitnehmer Schlafprobleme.

In der Reformationszeit galt Schlafen Kümper zufolge als unnötige
Zeitverschwendung, die vom Arbeiten abhielt. Im 18. Jahrhundert
änderte sich das Menschenbild. «Es herrschte in der Aufklärung die
Vorstellung, dass der Körper wie eine Maschine geölt werden müsse, um

seine Lebensenergie zu erhalten, sonst drohte der Tod.» Und im Schlaf
wurden die Akkus wieder aufgeladen, so dachte man ganz ähnlich wie
heute.

Andererseits genossen diejenigen, die ihre Schlafzeiten scheinbar
beeinflussen konnten, wie Beethoven oder Goethe, Kultstatus. Die
Überwindung des Schlafbedürfnisses gehörte zum Geniebegriff, wie der

Professor für Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

herausgefunden hat. «Gesund ist das allerdings nicht gewesen,
schließlich werden im Schlaf Schadstoffe aus dem Gehirn entsorgt,
sagt Leuck von der Selbsthilfegruppe. Ständiges Wecken eines
schlafenden Menschen sei eine Foltermethode.

In den 1950er Jahren machten Schlafmittel in der westlichen Welt
Furore. «Mit Medikamenten glaubte man, jegliche Dysfunktion in den
Griff zu bekommen, so auch die Schlaflosigkeit», sagt Kümper. Das
habe Medikamentenabhängigkeit erzeugt, die sich in ländlichen
Gebieten der USA bis heute gehalten habe. Bezeichnend sei der Song
der Rolling Stones «Mother's Little Helper» (Mutters kleine Helfer)
über den Missbrauch von Beruhigungspillen aus dem Jahr 1966.

Heute werden in der Regel nur Schlafmittel verschrieben, die wenig
abhängig machen, wie Leuck sagt: «Die Zeit, in der Ärzte die Pillen
unter die Leute streuten, ist vorbei.» Er hat für die Betroffenen
gute Ratschläge ganz ohne Chemie: auf eine Siesta verzichten,
Mahlzeiten maximal drei Stunden vor dem Zubettgehen einnehmen, Sport
nicht unmittelbar vor der Nachtruhe treiben, Smartphone und Arbeit
aus den Laken verbannen. Und die Mahnung an alle Paare: «Das Bett ist
auch kein Platz zum Streiten.»