Omikron in England: Geht das Zocken mit dem Virus glimpflich aus? Von Larissa Schwedes, dpa

Viele Länder haben sich mit verschärften Corona-Beschränkungen gegen

Omikron gewappnet. In England hingegen ließ man die hoch ansteckende
Virusvariante weitgehend ungebremst durchs Land rauschen.
Bestandsaufnahme eines gefährlichen Experiments.

London (dpa) - Am 27. November kam Omikron an - sowohl in
Großbritannien als auch in Deutschland. Doch damit hören die
Gemeinsamkeiten beider Länder im Umgang mit der hoch ansteckenden
Virusvariante auch schon auf. Im Vereinigten Königreich traf Omikron
auf eine Gesellschaft fast ohne Beschränkungen und breitete sich in
Windeseile aus. Premier Boris Johnson ließ das weitgehend zu und
erklärte die Auffrischungsimpfungen unter dem Slogan «Get Boosted
Now» zur obersten nationalen Mission.

Selbst eine leichte Verschärfung seiner Corona-Politik - mehr Masken
in Innenräumen und Impfnachweise für Clubs und Großevents - löste
eine Rebellion ungekannten Ausmaßes in den Reihen seiner Tory-Partei
aus. Seit den Tagen vor Weihnachten lässt sich die englische
Corona-Strategie daher so umreißen: Augen zu, boostern - und Russisch
Roulette mit dem Virus spielen.

In Deutschland begann die Zeit des Wartens und Warnens: Omikron war
zwar da, aber lange noch nicht so richtig - auch wegen einer dünnen
Datenlage über die Feiertage. Wochenlang schielte man besorgt auf den
Omikron-Anteil in den Infektionszahlen, machte aus 3G erst 2G und
dann sogar 2G+, während im Paralleluniversum England weiter Fußball
gespielt und gefeiert wurde - ob geimpft oder ungeimpft.
International waren sich viele Beobachter einig: eine Katastrophe mit
Ansage.

Doch nun, einige Wochen später, ist die Lage komplizierter.
Mittlerweile gilt als bewiesen, dass Omikron Menschen weniger oft
schwer krank macht - allerdings führt die schiere Masse an
Infizierten dazu, dass etliche Patienten ins Krankenhaus kommen.
Verschärfungen fordert in England niemand mehr, dafür ist es den
Modellen der Experten zufolge zu spät. Stattdessen steht die Frage im
Raum: Hat sich das Zocken mit dem Virus gelohnt? Bleibt den Briten,
obwohl es kaum Einschränkungen gab, die große Katastrophe erspart?

Im politischen London scheint sich diese Erzählung durchzusetzen,
zumal die Todeszahlen mit zuletzt rund 300 pro Tag weit unter denen
des vergangenen Winters liegen. Der britische Minister Michael Gove
erklärte diese Woche im BBC-Interview sein Werben für schärfere
Maßnahmen rückwirkend zum Irrtum und sagte über Johnsons kontroversen

Kurs: «Seine Einschätzung hat sich bewahrheitet.»

Aus dem Gesundheitssystem dringen dagegen Tag für Tag Nachrichten,
die beunruhigend klingen. Dem «Guardian» zufolge haben seit Neujahr
24 Krankenhäuser den Ernstfall ausgerufen. Das bedeutet, dass sie der
Ansicht sind, ihren Betrieb nicht wie gewohnt aufrechterhalten zu
können. Das Militär ist im Einsatz, um Lücken zu stopfen. Tausende
Notfallpatienten müssen stundenlang warten, bis sie behandelt werden.
Im Norden des Landes bat man Herzinfarkt-Patienten, sich selbst ein
Taxi zum Krankenhaus zu rufen. Der National Health Service (NHS) hat
Verträge mit privaten Trägern geschlossen, um deren Kapazitäten
nutzen zu können.

Außerdem werden in Turnhallen oder Bildungszentren erneut
Mini-Notfallkrankenhäuser aufgebaut, um notfalls Patienten in 4000
Extrabetten aufnehmen zu können. Das Hauptproblem ist jedoch aktuell
nicht der fehlende Platz, sondern das fehlende medizinische Personal
- weil so viele gleichzeitig wegen Omikron ausfallen.

Am 9. Januar fehlten im NHS England mehr als 40 000 Beschäftigte im
Zusammenhang mit Covid-19 - mehr als dreimal so viele wie noch Anfang
Dezember. «Der NHS ist nicht überwältigt, aber definitiv sehr
strapaziert», sagte der Mediziner Azeem Majeed vom Imperial College
London der Deutschen Presse-Agentur. Er räumt aber auch ein: Die
Belastung ist trotz allem nicht so heftig wie vor einem Jahr, als die
Alpha-Welle das Land überrollte.

Nachdem zeitweise in London jeder Zehnte infiziert war, scheint
Omikron langsam die Kraft auszugehen. Dass die Kurve der
Neuinfektionen und der Krankenhauseinweisungen seit einigen Tagen
fällt, gibt Grund zur Hoffnung, dass das Schlimmste bald überstanden
sein könnte. Majeed geht davon aus, dass die Fallzahlen trotzdem noch
lange auf hohem Niveau bleiben werden - und warnt davor, die wenigen
geltenden Maßnahmen zu früh aufzuheben. Rechtlich laufen diese jedoch
am 26. Januar aus. Es gilt es als unwahrscheinlich, dass der wegen
Lockdown-Partys in der Downing Street unter Druck stehende Johnson
überhaupt den Versuch wagen wird, sie noch einmal zu verlängern.

Schottland, Nordirland und Wales entscheiden eigenständig über ihre
Corona-Maßnahmen - und fahren einen deutlich vorsichtigeren Kurs. Der
walisische Regierungschef Mark Drakeford warf Johnson kürzlich vor,
die englischen Bürger nicht vor Covid zu schützen.

Corona-Expertin Christina Pagel befürchtet, dass die aktuelle
Kombination aus neuen Varianten, schwindendem Impfschutz und kaum
Gegenmaßnahmen England zu «massiven Infektionswellen ein oder zweimal
im Jahr verdammt», wie sie kürzlich auf Twitter schrieb. Das werde
den Gesundheitsdienst zunehmend schwächen und immer wieder für
heftige Störungen im öffentlichen Leben sorgen. Auch für den Umgang
mit weiteren Krisen - wie weiteren Pandemien oder der Klimakrise -
sei dies keine funktionierende Strategie. «Wir bewegen uns
rückwärts», lautet das Urteil der Wissenschaftlerin.