«Wichtiges Signal»: Lebenslange Haft für Staatsfolter in Syrien

Ein Jahrzehnt nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs spricht ein
Gericht in Koblenz ein historisches Urteil: lebenslange Haft für
einen Mann, der in einem Gefängnis für Folter verantwortlich gewesen
sein soll. Die Rede ist von einem «Meilenstein des Völkerrechts».

Koblenz (dpa) - Das Urteil in dem nach Angaben der Bundesanwaltschaft
weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien ist
gesprochen: Das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) verhängte am
Donnerstag eine lebenslange Haftstrafe gegen den Syrer Anwar R.. Es
sprach ihn unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
schuldig. Der 58-Jährige war nach Auffassung der Richter in einem
Gefängnis des Allgemeinen Geheimdienstes in der syrischen Hauptstadt
Damaskus als Vernehmungschef für die Folter von mindestens 4000
Menschen verantwortlich. Politik und Menschenrechtsorganisationen
begrüßten den Urteilsspruch.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet,
begrüßte den «historischen Schuldspruch». Sie forderte andere Staat
en
auf, Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung gravierender
Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben. Der Prozess in Koblenz
habe den Fokus wieder darauf gelenkt, wie brutal die Menschenrechte
in Syrien über mehr als ein Jahrzehnt hinweg verletzt worden seien.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht das Urteil als
«Pionierarbeit» und hofft ebenfalls auf Gerichte in anderen Staaten.
«Ich würde es begrüßen, wenn andere Rechtsstaaten diesem Beispiel
folgen. Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, darf
nirgendwo sichere Rückzugsräume finden», sagte er. In den
Foltergefängnissen des Assad-Regimes sei entsetzliches Unrecht
geschehen. «Hierauf in der Sprache des Rechts eine Antwort zu geben,
ist die Verantwortung der gesamten Staatengemeinschaft.»

Der im April 2020 begonnene Prozess ist somit am 108. Verhandlungstag
zu Ende gegangen - noch ist das Urteil aber nicht rechtskräftig. Das
Verfahren mit mehr als 80 Zeugen sowie mit einer Reihe von
Folteropfern als Nebenkläger hatte international Aufsehen erregt. Der
Angeklagte hatte sich selbst als unschuldig bezeichnet. Daher hatte
seine Verteidigung auf Freispruch plädiert. Die Bundesanwaltschaft
hatte lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere
der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu
ausgeschlossen hätte. Letzteres stellte das Gericht nicht fest.

Nach Überzeugung des Koblenzer OLG-Staatsschutzsenats hatte Anwar R.
die Verbrechen gegen die Menschlichkeit 2011 und 2012 in der
Anfangsphase des syrischen Bürgerkriegs begangen. Die Vorsitzende
Richterin Anne Kerber sagte: «Vor Gericht steht hier nicht das
syrische Regime. Hier geht es um das Verhalten, das dem Angeklagten
individuell vorzuwerfen ist.» Der Angeklagte habe sich als ein
«zuverlässiger, intellektueller und leistungsstarker Technokrat»
erwiesen bei seiner Arbeit im Geheimdienst. Er habe von den
Folterungen und Todesfällen gewusst. Er habe sich entschieden, das
Regime zu unterstützen auch im Bürgerkrieg, auch wegen der sozialen
und wirtschaftlichen Aufstiegschancen für ihn.

Das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht erlaubt es, auch
hierzulande mögliche Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen
Staaten zu verfolgen. Anwar R. wurde nach seiner Flucht nach
Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 in Berlin festgenommen
worden. Amnesty International äußerte die Hoffnung, dass weitere
Prozesse nach dem Weltrechtsprinzip angestrengt werden.

Die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen,
Lamya Kaddor, sagte: «Die lebenslange Haftstrafe für einen
höherrangigen Folterknecht des syrischen Regimes ist ein Meilenstein
des Völkerrechts und ein weiterer Schlag des Rechtsstaats gegen
Straflosigkeit von Kriegsverbrechern.» Kaddor verwies auf weitere
Haftbefehle gegen hochrangige syrische Verantwortliche, die in
Deutschland vorliegen. Sie hatte am Mittwoch in ihrer ersten Rede als
Bundestagsabgeordnete gesagt: «Ich stehe hier als Deutsche und
Tochter syrischer Einwanderer, deren Eltern es nie für möglich
gehalten hätten, ihr Kind an dieser Stelle sprechen zu hören.»

Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami sagte der Zeitung
«Rheinpfalz»: «Hier hat ein Land gezeigt, wie man von der eigenen
Geschichte lernen kann, und solchen kaltblütigen Mördern gezeigt,
dass sie, auch wenn sie flüchten, bestraft werden können.»

Der Menschenrechtsaktivist Omar al-Schughri, der in Syrien selbst
gefoltert wurde, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Der symbolische
Wert des Urteils ist ein Beweis dafür, wie ein Trauma uns antreibt,
Dinge wieder aufzubauen, von denen wir nie dachten, dass sie jemals
erreicht werden könnten. Unsere Vergangenheit ist eine Waffe gegen
unsere Feinde.» Das Urteil werde nicht das gebrochene Herz jeder
Mutter heilen, deren Sohn unter Folter getötet worden sei, und auch
nicht Opfer zu ihren Familien zurückbringen. «Aber es gibt uns die
Hoffnung, dass das Regime fallen und wir frei sein werden.»

Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes (DRB), Sven
Rebehn, teilte mit: «Die Arbeit der deutschen Justiz im Bereich des
Völkerstrafrechts gilt international als vorbildlich.» Es sei extrem
aufwendig, im Ausland verübte Verbrechen vor deutschen Gerichten
aufzuklären. «Umso wichtiger ist es, dass die neue Bundesregierung
sich jetzt vorgenommen hat, die Bundesanwaltschaft und die
zuständigen Gerichte für diese bedeutende Aufgabe weiter zu
verstärken.»

Amnesty International nannte das Urteil ein «wichtiges Signal im
Kampf gegen Straflosigkeit». Der Generalsekretär des deutschen
Ablegers der Menschenrechtsorganisation, Markus N. Beeko, erklärte,
die Beweisaufnahme im Fall Anwar R. sei eine wertvolle Basis für den
nächsten Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu Syrien.

Der startet am kommenden Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Frankfurt
gegen einen syrischen Arzt. Ihm wird vorgeworfen, 2011 und 2012 in
einem Militärkrankenhaus und einem Gefängnis des Militärischen
Geheimdienstes im syrischen Homs Menschen gefoltert zu haben.