Den Blick durchs Schlüsselloch weiten - Genanalysen am Coronavirus Von Christopher Hirsch, dpa

Coronaviren verändern sich ständig. Das macht aufwendige Genanalysen
notwendig. In Greifswald arbeiten Forscher dabei am Anschlag. Ihre
Verfahren könnten in Zukunft auch bei anderen Erregern verstärkt zum
Einsatz kommen.

Greifswald (dpa/mv) - Christian Kohler legt behutsam eine längliche
Platine in eine Art übergroßen USB-Stick, der per Kabel an einem
Laptop hängt. Statt mit Musik- oder etwa Textdateien wird dieser
sogenannte Sequenzierer allerdings mit Proben des Coronavirus
befüllt. «Das ist die neueste Technologie, die auf dem Markt ist»,
sagt Kohler. Er ist Teil eines Teams, das an der Universitätsmedizin
Greifswald (UMG) die Gendaten aus Corona-Proben entschlüsselt, um so
etwa der Omikron-Variante auf die Spur zu kommen.

Der Sequenzierer - einer von zweien seiner Art in dem Greifswalder
Labor - benötigt für zwölf Proben vier bis sechs Stunden. Davor
müssen die Proben vorbereitet und das Genmaterial vervielfältigt
werden, was etwa acht Stunden dauert. Und auch nachdem der
Sequenzierer 50 bis 100 Gigabyte Daten ausgespuckt hat, schließen
sich noch mehrstündige Analysen am Computer an. Sequenzieren ist
aufwendig und teuer.

Karsten Becker, Leiter der Medizinischen Mikrobiologie, umschreibt
die Arbeit anhand von Büchern: Mit einem normalen PCR-Test finde man
heraus, ob ein Buch existiere oder nicht. Mit einem speziellen
PCR-Test zur Erkennung von Corona-Varianten erfahre man den Titel des
Buches. «Und wenn wir eine Sequenzierung durchführen, dann können wir

den gesamten Text lesen.» So könne man den genetischen Bauplan
entschlüsseln, genau die Variante und sogar die Subvariante
feststellen.

Das Projekt war im Frühjahr des vergangenen Jahres gestartet und hat
vom Land eine Förderung von fast 1,3 Millionen Euro erhalten. Es soll
neue Corona-Varianten im Nordosten aufspüren und die Daten aus
anderen Laboren bündeln. Etwa fünf Prozent der Corona-Proben im Land
würden als Stichproben auf Varianten untersucht, erklärt Becker.
Außerdem könnten etwa Behörden bei auffälligen Symptomatiken oder
Ausbruchsgeschehen Proben einschicken. Die Forscher kombinieren
Gendaten des Virus mit Daten der Gesundheitsämter etwa zu den
Umständen eines Ausbruchs, um zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen,
aber auch, damit besser über Maßnahmen entschieden werden kann. Das
ist laut den Verantwortlichen so auf Landesebene einzigartig in
Deutschland.

Derzeit zeichne sich die Ausbreitung der Omikron-Variante deutlich
ab. Von «Wahnsinn» spricht Nils-Olaf Hübner, Leitender Hygieniker der

UMG, mit Blick auf die Ausbreitung. Wie erwartet dominiere die
Variante mittlerweile in Mecklenburg-Vorpommern. Nach neuesten
Untersuchungen des Labors mache Omikron inzwischen bis zu zwei
Drittel der nachgewiesenen Corona-Infektionen aus.

Mehr als 1500 Proben habe er zusammen mit zwei Technischen
Assistentinnen bereits sequenziert, sagt Kohler. Vor Weihnachten
seien es mehr als 140 pro Woche gewesen. «Das werden wir auf Dauer
auch nicht so fahren können.» Die Arbeit sei anstrengend. «Ich darf
mir auch kein Fehler erlauben», sagt der Wissenschaftler, der
zusätzlich etwa auch noch Vorlesungen gibt. Die Arbeit starte am
Montag und reiche auch schon mal bis in den Sonntag hinein. Mit der
Landesregierung seien ursprünglich maximal 100 Sequenzierungen pro
Woche vereinbart worden, sagt Hübner.

Um mehr zu sequenzieren, fehlt es laut Becker wie auch in anderen
Laboren an Personal. Die Mitarbeiter in den Laboren seien enorm
belastet. Bei den Menschen, die Corona-Patienten behandeln, habe es
zwischendurch weniger Fälle und damit Entlastung gegeben. «Die hatten
wir nie.» Es sei im Gegenteil sogar noch mehr getestet worden. Die
Labormitarbeiter seien extrem sauer gewesen, als sie bei
Corona-Prämien nicht berücksichtigt wurden. Auch bei ihnen gebe es
Überlastungen, auch psychische Grenzen seien erreicht worden.

Wissenschaftlich nennt er die Genanalysen am Coronavirus hoch
spannend. «So toll wie mit Sars-CoV-2 kann man Evolution nicht noch
mal verfolgen». Das Virus stehe ständig unter Druck, sich noch besser
zu vermehren oder noch besser andocken zu können. «Das Krankmachende
ist eigentlich nur so ein Nebenprodukt. Das interessiert das Virus
eigentlich überhaupt nicht.» Auf lange Sicht setzten sich meist
solche Erreger durch, die ihren Wirt nur wenig oder gar nicht
schädigen.

Hübner sagt: «Das Virus hat noch einiges in petto, was es an Karten
ziehen könnte, die es noch nicht gezogen hat.» Es könnte sich zum
Beispiel so verändern, dass es mit den derzeit verwendeten PCR-Tests
nicht mehr erkannt werden kann. Bei Corona schaue die Wissenschaft
teilweise noch durch ein Schlüsselloch. «Verändern Sie ihren Winkel,

gucken Sie wieder und dann sehen Sie auf einmal etwas ganz anderes.»
Es handele sich zwar um denselben Raum, aber die Verbindung fehle.
«Wir gucken durch ein bisschen größeres Loch», sagte Hübner mit B
lick
auf die Sequenzierungen.

Auch jenseits von Corona verspricht er sich einen Mehrwert. Bakterien
etwa könnten zwar zur selben Spezies gehören, aber ganz
unterschiedliche Eigenschaften haben. Mit einer genaueren Analyse
mittels Sequenzierung könne man etwa Antibiotika einsparen und auch
Therapien und Prävention besser anpassen.

Auch vor Corona sei in Deutschland sequenziert worden, sagt Becker.
Die Überwachung der verschiedenen Corona-Varianten habe der teuren
und aufwendigen Methode allerdings einen Aufschwung beschert. An
seinem Haus sei das Verfahren zuvor zwar in der Forschung, aber nicht
in der Krankenversorgung eingesetzt worden.

«Es ist nicht so, wenn jetzt Corona vorbei sein sollte, dass wir das
wegschmeißen.» Man wolle mit dem Verfahren in Zukunft auch
Resistenzen von Erregern überwachen und Erreger identifizieren, die
man mit herkömmlichen Methoden nicht nachweisen könne. «Deswegen ist

das für uns eine geniale Investition auch in die Zukunft.»