Tschernobyl strahlt weiter: Deutsche Experten messen in Sperrzone Von Andreas Stein und Christian Thiele, dpa

Wie gefährlich ist die Strahlung rund um das frühere sowjetische
Atomkraftwerk Tschernobyl? Deutsche Experten haben in der Ukraine
abermals gemessen. Viele Touristen schreckt die Gefahr nicht ab.

Tschernobyl (dpa) - Ein blauer Hubschrauber der Bundespolizei steigt
in den Himmel über der verlassenen Stadt Tschernobyl. Feuerwehrleute
und Beobachter am Boden tragen in sicherem Abstand Schutzmasken. Doch
ist die Gefahr hier nicht das Coronavirus: Auch 35 Jahre nach der
Reaktorkatastrophe im einst sowjetischen Atomkraftwerk gibt es noch
immer radioaktiv strahlende Staubpartikel. Deutsche Fachleute sind
deshalb in den Norden der Ukraine gereist, um dort mit Kollegen vor
Ort eine neue Karte mit der Strahlenbelastung zu erstellen. Erste
Ergebnisse deuten an, dass die Gefahr noch nicht verschwunden ist.

Die beiden Hubschrauber der Bundespolizei aus Deutschland sind
täglich vier bis sechs Stunden im Einsatz. An Bord sind etwa 200
Kilogramm schwere Messsysteme. «Wir nutzen den Hubschrauber, um einen
Überblick zu bekommen, und machen anschließend detailliertere
Messungen am Boden», erklärt Christopher Strobl vom Bundesamt für
Strahlenschutz. Bei einer Flughöhe von 100 Meter haben die Helikopter
einen Sichtbereich von 500 Metern.

Am 26. April 1986 explodierte nach einem fehlgeschlagenen Experiment
der Reaktor vier des damals sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl.
Das Unglück, das gut 100 Kilometer nördlich der ukrainischen
Hauptstadt Kiew geschah, gilt als die größte Atomkatastrophe der
zivilen Nutzung der Kernkraft. Tausende Menschen starben.
Hunderttausende wurden zwangsumgesiedelt. Bis heute sind weite
Landstriche in den ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus
(Weißrussland) und Russland verstrahlt.

Einer der deutschen Hubschrauberpiloten ist Silvio Renneberg von der
Fliegerstaffel Blumberg in Brandenburg. «Das ist ein besonderes
Gefühl, dass man hier auch mal vor Ort ist, was man so im Fernsehen
gesehen hat», sagt der sehr erfahrene Pilot der Deutschen
Presse-Agentur in Tschernobyl. In 16 Jahren hat er 2600 Flugstunden
angesammelt. Alle Piloten hätten sich freiwillig gemeldet.

Direkt über dem verunglückten Reaktor mit seiner rund zwei Milliarden
Euro teuren und 2016 eingeweihten Stahlhülle dürfen die Hubschrauber
nicht fliegen. Zu groß ist den ukrainischen Behörden das Risiko eines
möglichen Absturzes gewesen. Drohnen des ukrainischen
Staatsunternehmens Ekozentr sorgen für Messergebnisse.

Bei dem mittlerweile dritten Einsatz in der rund 2600
Quadratkilometer großen ukrainischen Sperrzone - das entspricht etwa
der Fläche des Saarlandes - wird nicht allein per Hubschrauber
gemessen. Die aus Mitarbeitern des Katastrophenschutzes des
westukrainischen Atomkraftwerks Riwne und des deutschen Bundesamts
für Strahlenschutz bestehenden mobilen Teams arbeiten am Boden 200
Messpunkte ab.

Die Ergebnisse der Messungen sollen im April auf einer Fachtagung
präsentiert werden. Vorab kann Christopher Strobl vom Bundesamt
bereits sagen, dass die Cäsiumverteilung derjenigen ähnelt, die in
den 1990er Jahren von den örtlichen Kollegen erstellt wurde.

Das zum Biosphärenreservat erklärte Gebiet ist inzwischen nicht mehr
komplett menschenleer. «Unser Ziel ist heute, die Sperrzone als
Territorium der Entfremdung in ein Territorium der Wiedergeburt zu
verwandeln», gab Präsident Wolodymyr Selenskyj am 35. Jahrestag der
Katastrophe im Frühjahr als Marschroute aus. 2018 wurde bereits ein
erstes Solarkraftwerk von einem Megawatt Leistung neben der Atomruine
errichtet. Weitere sollen folgen. So der Plan.

Ähnliches ist aus dem benachbarten Belarus von Machthaber Alexander
Lukaschenko zu vernehmen. Es gebe immer weniger Orte, in denen die
Grenzwerte der Strahlung überschritten würden, sagte er unlängst der

Staatsagentur Belta zufolge. «Aber was viel wichtiger ist: Wir
produzieren wieder Lebensmittel, die man essen darf. Hier wohnen
Menschen, hier werden Familien gegründet und Kinder geboren.»

Die Grenze zu Belarus ist nur gut 10 Kilometer vom stillgelegten
Kraftwerk entfernt. Die frühere Sowjetrepublik war wie kein anderes
Land von der Katastrophe betroffen. Ähnlich wie in der Ukraine wurde
ein großes Gebiet im Süden um die Stadt Gomel zum Schutzgebiet
erklärt. Die Natur hat sich allmählich die früher vom Menschen
bewohnten Flächen zurückerobert. Umweltschützer berichten stolz, dass

dort inzwischen zum Teil bedrohte Tier- und Pflanzenarten leben.

Bekannter ist das Tschernobyl-Sperrgebiet jedoch inzwischen als Ziel
für Touristen. «Hol dir deinen Schuss Adrenalin», werben Veranstalter

für einen Trip zum Unglücksreaktor und die Geisterstadt Prypjat. 2019
war der bisherige Höhepunkt mit über 120 000 Touristen in der Zone.
Wegen der Corona-Pandemie ging die Zahl im vorigen Jahr deutlich
zurück. Doch nun kommen wieder Dutzende vor allem westliche Besucher
in die Sperrzone. Selbst in der Werkskantine werden Souvenirs
angeboten - und Touren auf Deutsch, Polnisch und Englisch.